Die Geschichte des Antisemitismus: Woher der Judenhass kommt
Bereits in der Antike wurden Juden verfolgt. Später gab es Pogrome durch Christen genauso wie Muslime. Judenhass flammte in Wellen auf – befeuert von Krisen.
Wenn man Abdel-Hakim Ourghi nach muslimischen Pogromen an Juden fragt, sprudelt es aus ihm heraus: „Granada 1066, Fez 1565, Bengasi 1758, Algier 1815, Damaskus 1840 ... die Liste ist sehr lang und die Juden waren oft drastischen Restriktionen unterworfen. Ab dem 8. Jahrhundert mussten sie etwa gelbe Flecken auf der Kleidung tragen, um sich von den Muslimen zu unterscheiden“, erzählt der Islamwissenschafter von der Pädagogischen Hochschule Freiburg, der in seinem aktuellen Buch Die Juden im Koran. Ein Zerrbild mit fatalen Folgen den muslimischen Antisemitismus anprangert.
Und das ist alles andere als selbstverständlich: Ourghi kam mit 23 Jahren als indoktrinierter Antisemit aus Algerien nach Deutschland. Juden galten ihm als Täter, Muslime als Opfer. Ein Zerrbild, eingebläut in Moscheen, arabischen Schulen und Hochschulen, schreibt er. Erst in Deutschland lernte er „anders zu denken“. Heute gilt er als prominente Stimme der liberalen Muslime in Deutschland.
Konservative dagegen kritisieren ihn scharf. Wahrscheinlich auch, weil er sagt: „Es stimmt einfach nicht, dass der muslimische Antisemitismus eine Folge der Gründung des Staates Israel 1948 ist. Judenfeindschaft ist religiös motiviert und findet ihre Legitimation im Koran“.Der Koran selbst formuliere ein stereotypes Sündenregister der Juden. Diesen Punkt hatten Islam sowie Christentum wohl gemeinsam – und die alten Römer dazu.
In dieser Geschichte wird den Wurzeln der Judenfeindschaft nachgespürt. Sie erfahren, wie Juden bereits vor mehr als 2000 Jahren von Heiden schlecht gemacht wurden und wie sich das negative Judenbild – aufgeladen durch antijüdische Mythen und Klischees – später in ganz Europa verfestigte. Mit katastrophalen Folgen bis hin zum aktuellen Terroranschlag der Hamas.
Das Schlechtmachen allen Jüdischen ist seit 2000 Jahren Programm. „Diese Abwehrhaltung gab es bereits im Römischen Reich, obwohl die jüdische Religion erlaubt war“, weiß das Vorstandsmitglied des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien, Zeithistoriker Hannes Leidinger. Aber: „Die Juden wurden aufgrund des Monotheismus und ihrer religiösen Riten wie Shabbat, Beschneidung oder Speisenvorschriften als etwas Fremdes wahrgenommen. Bereits unter Heiden ist also eine antijüdische Tendenz erkennbar. Es handelt sich um ein altes Erbe.“
„Absonderliche Sitten“
Der Ton, der schon damals angeschlagen wurde, bestimme die Geschichte des Antisemitismus bis heute, schreibt Peter Schäfer, einer der führenden Experten für die Geschichte der jüdischen Religion, im deutschen Magazin Der Spiegel. Er leitete bis 2019 das jüdische Museum in Berlin: „Die Juden werden als Volk mit absonderlichen Sitten und Gebräuchen dargestellt, das sich durch seinen Menschenhass von allen anderen Völkern unterscheidet. Und: Es sei nur zu besiegen, wenn es mit Stumpf und Stiel ausgerottet werde.“ Dieses Bündel an Vorurteilen führte im 1. Jahrhundert n. Chr. in Alexandria zum ersten Pogrom in der Geschichte, bei dem ein Mob die jüdischen Einwohner der Stadt tötete.
Später tauchen im christlichen Abendland neben den religiösen Motiven – Stichwort: „Christusmörder“ – absurde Vorwürfe wie Ritualmord und Hostienfrevel auf. Die wirtschaftlichen Motive nicht zu vergessen: Nachdem die Juden von der Kirche erst in den verpönten Geldhandel abgedrängt worden waren, wurde ihnen der Vorwurf gemacht, Wucherer zu sein. Irgendwann hatte sich das negative Judenbild – aufgeladen durch antijüdische Mythen und Klischees – in ganz Europa verfestigt.
Juden, Christen und der Koran
In der arabischen Welt begann unterdessen die muslimische Judenfeindschaft. Wobei das eigentlich zu kurz greift: „Der Koran, die heilige Schrift des Islam, ist tief von der Auseinandersetzung mit dem Judentum und dem Christentum geprägt“, schreibt Schäfer weiter. Dabei werde heute aber oft übersehen, dass die meisten Aussagen des Korans zu Juden und Christen sich an beide richten.
„Der Islam verstand sich eben nicht als eine neue Religion, sondern als die eigentliche alte Religion Abrahams, die noch vor Judentum und Christentum entstanden sei. Juden und Christen haben demnach ihren ursprünglichen Auftrag missverstanden und ihre Bibel verfälscht. Der Islam rückte dies zurecht.“ Trotzdem stünden beide unter dem besonderen Schutz der islamischen Autoritäten.
In diesem Punkt widerspricht Ourghi: Bereits 624, zwei Jahre nachdem Mohammed in Medina angekommen war, hätten Gewaltmaßnahmen begonnen.
Mohammed wusste, dass dort drei jüdische Stämme lebten, die – so der Plan – zum Islam konvertieren sollten.
von Abdel-Hakim Ourghi
Islamwissenschafter
„Erst trat Mohammed in Dialog mit den Juden. Als die sich aber weigerten, ihre Religion aufzugeben, begann die Gewalt. Zwei der jüdischen Stämme wurden auf Befehl des Propheten enteignet und vertrieben", erzählt Ourghi weiter. "627 folgte dann ein Massaker am dritten Stamm, den Banu Qurayza – der Koran spricht in Sure 33 offen darüber. 25 Nächte lang wurde der Stamm belagert. 600 Männer wurden exekutiert, die Besitztümer unter den Muslimen verteilt, Frauen und Kinder als Sklaven verkauft. Nur jenen, die zum Islam konvertierten, wurde das Leben geschenkt“, berichtet der Islamwissenschafter.
Jüdischer Sündenkatalog
„Nachdem der Prophet ab 624 die Juden als Gefahr für sich und Medina eingestuft hatte, lesen wir einen ganzen Sündenkatalog der Juden im Koran“. Sie seien Ungläubige, über die der Fluch Gottes komme, hätten den Bund mit Gott gebrochen und ihr Herz sei härter als Stein. „All das sollte das politische Handeln des Propheten legitimieren“, sagt der Islamwissenschafter und will bemerkt haben, dass genau diese Koran-Stellen wieder vermehrt in den Gemeinden und sozialen Medien zitiert würden, wenn es Krisen gäbe.
Der Versuch, den Koran per se antisemitisch zu deuten, ist indiskutabel.
von Hannes Leidinger
Historiker
„Richtig aber ist, dass der Islam die Juden gelegentlich bekehren wollte und – als das nicht gelang – die Stimmung umschlug“, meint Leidinger weiter.
Zwar war die islamische Judengesetzgebung strikt auf Abgrenzung bedacht. Aber anders als die christliche Gesetzgebung in Spätantike und Mittelalter gewährte sie Juden immer eine einklagbare Rechtssicherheit.
"Judenhass kommt in Wellen"
Das ganze christliche Mittelalter dagegen war ein ständiges Hin und Her von Schutz und Ausbeutung, Vertreibung und Verfolgung. „Der Judenhass kommt in Wellen und diese Wellen werden verstärkt von Kriegen und Aufständen hervorgerufen. Es ist bezeichnend, dass die ‚Wiener Geserah‘ (Vertreibung der Juden aus Wien 1420) vor dem Hintergrund der Hussitenkriege stattfindet“, weiß Leidinger.
Politik und Religion
Apropos Antisemitismus und Krisensituationen: Zur aktuellen Lage in Nahost meint Islamwissenschafter Ourghi, „dass da das Bild vermittelt werde, Antisemitismus sei ein europäisches Problem, das in die arabische Welt importiert wurde. Jeder Versuch, den muslimischen Judenhass nur auf die politischen Folgen nach der Gründung des Staates Israel zurückzuführen, ist zum Scheitern verurteilt. Ich prognostiziere, dass eine rein politische Lösung des Nahostkonfliktes den islamischen Antisemitismus nicht beenden wird.“
Selbstkritisch schließt der Islamwissenschafter: „Wir Muslime haben die Aufgabe, den Koran nicht wortwörtlich zu verstehen, sondern historisch kritisch an ihn heranzugehen. Wir müssen den Koran als zeitgeschichtliches Dokument begreifen.“ Und: „Der Prophet war ein normaler Mensch und sein politisches Handeln muss kritisiert werden können.“
Zur Beseitigung des islamischen Antisemitismus regt er verpflichtende Exkursionen für Schüler in die Shoah-Gedenkstätten und interreligiöse Begegnungen zwischen Menschen in Synagogen und in Moscheen an. „So werden Ängste voreinander abgebaut, Wunden können heilen.“ Und das gilt wohl nicht nur für Muslime und Juden, sondern auch für Christen und Juden.
KURIER-History
Der Blick zurück hilft, die Gegenwart besser zu verstehen. Und genau das tun wir in KURIER-History:
Antisemitismus Bezeichnet alle Formen von Judenhass, Judenfeindlichkeit oder Judenfeindschaft. Der Ausdruck entstand 1879 als Eigenbezeichnung deutscher Judenfeinde um den Journalisten Wilhelm Marr.
Pogrom Russisch für „Verwüstung, Zertrümmerung“. Steht für Hetze und gewalttätige Angriffe gegen Leben und Besitz einer religiösen, nationalen oder ethnischen Minderheit mit Duldung oder Unterstützung der Staatsgewalt. International entwickelte sich der Begriff ab 1881 aus den antijüdischen Angriffen im zaristischen Russland.
Diaspora Griechisch für „Zerstreuung, Verstreutheit“. Bezeichnet die Existenz religiöser, nationaler, kultureller oder ethnischer Gemeinschaften in der Fremde, nachdem sie ihre traditionelle Heimat verlassen haben.
Holocaust Griechisch für „Brandopfer“. Bezieht sich auf religiöse Opferriten, bei denen das Opfertier ganz verbrannt wurde. Ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts gebrauchten britische Autoren das Wort für Massenmorde, die aus politischen Gründen durchgeführt werden. Seit den 1970er-Jahren ist der Begriff international gebräuchlich.
Shoah Hebräisch für „Untergang“, „Katastrophe“. Bezeichnet die Massenvernichtung der europäischen Juden während der NS-Herrschaft. Der Begriff kommt auch in Israels Unabhängigkeitserklärung vor