„Das osmanische Kalifat verschwand 1924 eher mit einem Wimmern als mit einem Paukenschlag“, schrieb der britische Historiker Hugh Kennedy 2018 in seinem Buch Das Kalifat. Von Mohammeds Tod bis zum Islamischen Staat. Trotz des demütigenden Endes löste die Abschaffung Bestürzung aus, weil man sich das Überleben der arabischen Gemeinschaft ohne das Kalifenamt nicht vorstellen konnte. Kennedy: „Viele Muslime fühlten sich gedemütigt, und manche sahen in einer Wiederbelebung des Kalifats einen Hoffnungsschimmer.“
Entstanden war das Konzept, weil Religionsstifter Mohammed verabsäumt hatte, seine Nachfolge zu regeln. Im 7. Jahrhundert übernahmen nacheinander vier Wegbegleiter die Position des gewählten „rechtgeleiteten Kalifen“. Danach wurde der Kalif mal vom Vorgänger ernannt, mal erkämpfte er den Titel auf dem Schlachtfeld.
Riesenreich entsteht
Das Kalifenreich breitete sich schnell aus. Im 8. und 9. Jahrhundert beherrschte man die gesamte islamische Welt vom Hindukusch bis in den Maghreb. Das prächtige Bagdad war Zentrum von Macht, Künsten und Wissenschaften. Einer der unumschränkten Herrscher über das geistliche und weltliche Heil war Harun ar-Raschid. Im Westen wurde der Kalif berühmt, weil er mit Karl dem Großen in Kontakt stand – so schenkte er dem westlichen Kaiser einen Elefanten mit dem Namen Abul-Abbas. In Europa gilt er als Idealbild eines orientalischen Herrschers. Verklärt in Tausend und eine Nacht, verschwimmen Dichtung und Wahrheit. „Dabei war Harun ar-Raschid nicht nur ein Anhänger der Künste, sondern auch ein Machtpolitiker und Eroberer“, sagt Islamwissenschafter David Arn von der Ludwig-Maximilians-Universität München im Bayerischen Rundfunk.
Von fromm bis vernügungssüchtig
Wobei: Ein einheitliches Konzept eines Kalifats gab es in der Geschichte des Islams ohnedies nie. Da waren kriegerische, fromme, intellektuelle, vergnügungssüchtige, inkompetente, grausame und tyrannische Kalifen, schreibt Historiker Kennedy. „Wer ein aggressives Kalifat sucht, in dem die muslimische Bevölkerung strikt kontrolliert wird, kann in den umfangreichen historischen Dokumenten Vorläufer dafür finden. Wer ein Kalifat sucht, das großzügig und offen für Ideen und Sitten ist, dabei aber selbstverständlich seiner Sicht des Willens und der Absichten Gottes treu bleibt, wird ebenfalls fündig.“
Kritiker leben gefährlich
Der renommierte Islamwissenschafter Abdel-Hakim Ourghi ergänzt im KURIER-Interview: „Schon das Umayyaden-Kalifat hat alle Gegner bekämpft, wer kritisierte, wurde hingerichtet. Unter dem abbasidischen Kalifat wiederholte sich die Geschichte“.
Über die Jahrhunderte verloren die Kalifate zunehmend an Bedeutung. Oft bestanden mehrere parallel, bis das eine das andere besiegte. 1258 fielen schließlich die Mongolen in Bagdad ein und brachten den Kalifen zu Fall. Der Kalifentitel, den die osmanischen Sultane später übernahmen, erlangte nie wieder seine alte Bedeutung.
Und das sei gut so, meint Ourghi, denn Kalifat stehe für „die Errichtung eines Gottesstaates auf Erden. Das bedeutet, dass die Scharia als politisches Gesetz gelten und alles andere bekämpft werden muss. Die westlichen Werte – Demokratie, Meinungsfreiheit – werden allesamt abgeschafft“, erklärt der Islamwissenschafter von der Pädagogischen Hochschule Freiburg, der als prominente Stimme der liberalen Muslime in Deutschland gilt. In Wahrheit ist das Kalifat eine antiquierte Herrschaftsform, die mit modernen Vorstellungen von Staat und Gesellschaft nicht vereinbar ist – „etwas, das sich auch die Mehrheit der Muslime nicht wünscht.“
Eine kleine Minderheit hänge aber der Idee vom Gottesstaat an. Sie sehen im Konzept des Kalifats eine Quelle der Einheit sowie Stärke und verkünden das auch lautstark. „Und das am besten im Westen, denn unsere Werte erlauben Protest. Nur hierzulande kann sich jeder frei äußern“, sagt Ourghi.
Und so fragt sich Ourghi: „Warum möchten die hier geborenen Muslime, die im Westen sozialisiert wurden und eigentlich loyal gegenüber unserem Staat sein sollten, nach dem Koran und in einem Kalifat leben? Was hat der Staat, was haben die Kirchen falsch gemacht?“
Tatsächlich ortet der Islamwissenschafter „unter politisch-konservativen Muslimen die Sehnsucht, so zu leben wie im 7. Jahrhundert als auch Mohammed lebte“. Sein Fazit: „Die Politik hat den politischen Islam unterschätzt.“