32 oder 41 Stunden? Der ewige Streit um die Arbeitszeit

Wir schreiben 1906 und das Leben der Durchschnittsmenschen besteht aus Arbeit, Arbeit und noch mehr Arbeit. In mehr als der Hälfte der Betriebe wird um die 60 Stunden pro Woche gearbeitet, in gut einem Drittel sogar noch länger. Doch dann kommt der schwäbische Industrielle Robert Bosch und erklärt seinen Arbeitern am 23. Juni, dass sie fortan die Werkbänke nach acht Stunden verlassen dürfen. Eine Kehrtwendung, denn im Laufe der industriellen Revolution war die Arbeitszeit in Europa immer länger geworden: Historiker haben errechnet, dass um 1800 bis 72 Stunden pro Woche gearbeitet wurden, zwischen 1830 und 1860 schuftete man bis zu 85 Wochenstunden.

Dabei hatten wir Menschen es über weite Strecken der Geschichte nicht so sehr mit dem Arbeiten: Als Jäger und Sammler widmeten sich ganze Familien nur ein paar Stunden pro Tag dem Beschaffen von Nahrung, sagen Anthropologen. Und fertig.
Auch in vorkapitalistischen Zeiten sei das Arbeitstempo entspannt gewesen, schreibt die Soziologin Juliet B. Schor in ihrem Buch The Overworked American: The Unexpected Decline of Leisure: Bis zum 17. Jahrhundert wurde deutlich weniger gearbeitet als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Aufzeichnungen des englischen Bischofs James Pilkington belegen, dass der Arbeitstag um 1570 von Pausen geprägt war – für Frühstück, Mittagessen und Nachmittagsschlaf. Die jährliche Arbeitszeit: etwa 2.000 Stunden – kaum mehr als heute. Zahlreiche Feiertage machten es möglich.
Steinzeit
3- bis 5-Stunden-Tag
Anthropologen vermuten, dass Jägerund Sammler nicht mehr als fünf Stunden am Tag gearbeitet haben. Allerdings dürften die Arbeitsstunden je nach Jahreszeit stark geschwankt haben
Altes Ägypten
8-Stunden-Tag (Arbeiter)
Im Pharaonenreich bestand eine Woche aus zehn Tagen. Befunde aus einem Dorf nahe dem Tal der Könige deuten auf eine Arbeitszeit von acht Stunden mit einer Stunde Mittagspause. Acht Tage wurde geschuftet, zwei geruht. Aufgrund vieler Feiertage kam man auf 131 Arbeitstage im Jahr
Römisches Reich
6-Stunden-Tag (Handwerker)
Sklaven im Römischen Reich waren rund um die Uhr im Einsatz, aber die meisten Handwerker arbeiteten nur von 6 bis 12 Uhr. Und das nur 185 Tage im Jahr
Mittelalter, England
8-Stunden-Tag (Bauern)
Laut dem Ökonom James E. Thorold Rogers aus Oxford bestand der typische Arbeitstag aus maximal acht Stunden. Zur Erntezeit wurde länger gearbeitet, im Winter dafür kürzer. Sonntag war Ruhetag. Die Ökonomin Juliet Schor schätzt, dass Landwirte in der Zeit nach der Pest nicht mehr als 150 Tage im Jahr arbeiteten
Frühe Neuzeit
„Fleißrevolution“
Viele Feiertage fielen weg und die Jahresarbeitszeit stieg immer mehr an 17. Jh., Frankreich 10-Stunden-Tag Während der Regentschaft von König Ludwig XIV. dauerte der typische Arbeitstag bis zu zwölf Stunden, wobei zwei Stunden für das Mittagessen vorgesehen waren. 52 Sonntage, 90 Ruhetage und 38 Feiertage pro Jahr ergeben 185 Arbeitstage pro Jahr
Industrielle Revolution
In Europa erreichte die Arbeitszeit 1830 ihren Höhepunkt
Sonntag war der einzige Wochenruhetag, weiters der 1. Weihnachtstag und Karfreitag. Macht 311 Arbeitstage pro Jahr

Arbeitszeit vs. Freizeit
Die Arbeitszeit-Misere begann mit der Industrialisierung und dem neuen Zeitbewusstsein.
Das Konzept der Arbeitszeit im Gegensatz zur Freizeit ist in Folge der industriellen Revolution entstanden.
Umwelthistorikerin
Erstmals wurden Arbeits- und Wohnort strikt getrennt. Weil die Bevölkerung zeitgleich stark wuchs, gab es ein Überangebot an Arbeitskräften. Folge: Dienstgeber diktierten die Bedingungen und verlängerten die Arbeitszeit, um das in die Maschinen investierte Kapital möglichst schnell zu amortisieren. Freizeit gab es nur am Sonntag, Urlaub gar nicht.
Erstmals gesetzlich geregelte Arbeitszeit
So war es auch in neun niederösterreichischen Baumwollspinnereien. 1843 litten die Frauen dort unter ihrem 16-Stunden-Arbeitstag berichtet der Arzt J. Kolz, der die Fabriken von Amts wegen überwachte. Wobei „überwachen“ übertrieben ist: Eine gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit gab es nicht. Erst Jahrzehnte später griff der Staat regulierend in die Arbeitsverhältnisse seiner Untertanen ein: Im Jahr 1885 wurden die Arbeitszeiten erstmals gesetzlich fixiert. Es ist der Auftakt einer langen Geschichte der Arbeitszeitverkürzung.
Als Folge war das 20. Jahrhundert von einem permanenten Aushandlungsprozess zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geprägt.
Aktuell werden – je nachdem, ob man Sozialdemokratie oder Industriellenvereinigung fragt – die Rufe nach 32- oder 41-Stunden-Wochen laut.
Beides überzogen? Möglich!
Wobei der britische Ökonom John Maynard Keynes schon 1930 prophezeit hatte, die Menschen würden im Jahr 2030 nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten müssen. Wir werden sehen.
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