Juliputsch 1934: Der Tag, an dem die Nazis an einem Toten scheiterten

Nach dem Juliputsch 1934: Während der Ministerbesprechungen zur Kabinettsbildung wurden verstärkt Militär- und Polizeistreifen eingesetzt, hier auch Stacheldrahtverhaue vor der Marokkanerkaserne.
Es ist ein schwüler Mittwochmorgen im Juli 1934, als sich 154 Nationalsozialisten in einer Wiener Turnhalle versammeln. Die Mitglieder der illegalen „SS-Standarte 89“ bewaffnen sich und ziehen zur Tarnung Uniformen des Bundesheeres und der Polizei an. Ein zweiter Trupp in Zivil fährt zum Radiosender RAVAG und erzwingt die Falschnachricht, Bundeskanzler Engelbert Dollfuß sei zurückgetreten. Es ist das Signal an die Bundesländer loszuschlagen. Dann wird das Programm eingestellt. Die Gruppe Fake-Soldaten braust zeitgleich von der Turnhalle im Lkw zum Ballhausplatz. Ziel ist das Bundeskanzleramt, wo die Regierung – allen voran Dollfuß – in Geiselhaft genommen werden soll. Man will den Kanzler zum Rücktritt zwingen und an seine Stelle den nazifreundlichen christlich-sozialen Anton Rintelen setzen.
Von da an geht alles schief: Durch einen Verräter aus dem Kreis der Verschwörer gewarnt, beendet Dollfuß eine Sitzung vorzeitig und schickt die Minister in ihre Büros. Er bleibt unvorsichtigerweise und wird in einem Handgemenge von einer Kugel tödlich getroffen. Die Ereignisse in diesem Sommer sollten als Juliputsch in die Geschichte eingehen.
„Der Schuss auf Dollfuß war nie vorgesehen, er war der Einzige, auf den es ankam. Das einzige Druckmittel, das man gehabt hätte“, analysiert Kurt Bauer. Der Historiker ist Experte für den Juliputsch 1934. Ohne ihre wertvollste Geisel und von ihren politischen Führern abgeschnitten, wussten die Putschisten bald nicht mehr weiter. Am Abend ergaben sie sich.
In den Bundesländern begann der Nazi-Aufstand erst, als in Wien alles vorbei war (siehe Grafik unten). Am Ende standen 230 Tote – 105 auf Regierungsseite, 113 Nationalsozialisten und zwölf Unbeteiligte.
„Der Juliputsch ist nur einer von vielen Gewaltausbrüchen in dieser Zeit“, sagt der Historiker Stefan Benedik vom Haus der Geschichte Österreich. Und Bauer ergänzt: „Der politische Kampf der Nazis um Österreich wurde von Deutschland aus gefördert. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie das damals war.“
Es gab täglich Anschläge, in Wiener Caféhäusern gingen Bomben hoch, Attentate auf Züge in ganz Österreich.
Historiker
Hitler fühlte sich bedroht
Um zu verstehen, warum Hitler den Putsch befohlen hat (und das hat er, wie Historiker Bauer nachweisen konnte), sei es wichtig, die außenpolitische Komponente mehr zu beachten: „Den Kampf um den Lebensraum im Osten hatte Hitler schon lange in seinem Kopf. Dabei sah er Italien und England als Verbündete. Frankreich war der Erzfeind“, erklärt Bauer. „Damals strebte Frankreich ein Bündnis mit Russland an und aktivierte alte Verbündete – Tschechoslowakei, Rumänien, Jugoslawien. Als dann ein Bündnis zwischen Frankreich und Italien möglich schien, empfand Hitler das als Einkreisung – er fühlte sich absolut bedroht.“ Und glaubte, die Bedrohung nur durch einen riskanten Coup abwenden zu können: Eine Art Gleichschaltung Österreichs mit Deutschland sollte vorläufig genügen, um Frankreichs gefährliche Einkreisungsoffensive zu stoppen und Italien als Verbündeten zu gewinnen.
Hitler reist im Juni 1934 zu seinem Idol Mussolini. „Man unterhielt sich stundenlang unter vier Augen. Mussolini war der Meinung, er spreche gut Deutsch“, erzählt Bauer. „Und Hitler glaubte, Mussolini hätte einem Regierungswechsel in Österreich zugestimmt“. Um das Ausland ruhigzustellen, sollte das ganze Unternehmen als rein innerösterreichische Angelegenheit, als „Volksaufstand“, verkauft werden.
Doch Dollfuß’ Tod machte den Coup zunichte: Mussolini entzog Hitler seine Unterstützung. Der deutsche Reichskanzler stand in Europa sehr isoliert da. Der getötete österreichische Kanzler wiederum wurde sofort zum Märtyrer.
Der Juliputsch ist ein zentraler Moment in der Geschichte Österreichs, die Bedeutung ist – aufgrund der geteilten Erinnerung – allerdings umstritten.
Historiker
„Die Sozialdemokratie hat vor allem die Februarkämpfe 1934 betont, die Konservativen den Juli 1934. So haben es beide geschafft, sich als Opfer darzustellen und die Gesamtsicht auszublenden", analysiert Benedik weiter. Und Historiker Bauer ergänzt: Ja, man müsse „würdigen, dass der Ständestaat die Nazis einige Jahre gestoppt hat, obwohl das nicht der richtige Weg war.“
So oder so war es ein Wendepunkt in der Geschichte eines kleinen, nach dem Ersten Weltkrieg wider Willen unabhängigen Landes. Benedik: „Die Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur wird paradoxerweise zum Gründungsmythos Österreichs. Die Ereignisse haben dazu beigetragen, ein Österreich-Bewusstsein zu entwickeln – ein katholisches Selbstverständnis verwoben mit der Eigenständigkeit des kleinen Österreich.“
Kommentare