Was hinter der Übersterblichkeit in den USA stecken könnte
Seit dem Beginn der Pandemie sind rund 1,1 Millionen Amerikaner an Covid-19 gestorben - allerdings sind die Vereinigten Staaten laut dem Zentrum für Seuchenkontrolle mit einer Übersterblichkeit von 300.000 Amerikanern konfrontiert, wie die New York Times berichtet.
Bei der "Übersterblichkeit" werden historische und demografische Trends herangezogen, um die "erwarteten" Todesfälle in einer Bevölkerung zu schätzen. Je nach Berechnung lassen sich zwischen zehn Prozent und einem Viertel dieser Übersterblichkeit nicht direkt mit den Pandemie-Toten erklären.
"Wir müssen den Grund herausfinden", sagt Epidemiologe Michael Osterholm von der University of Minnesota. "Und um das zu tun, muss man diese Diskussion führen: Moment mal, das ist größer, als die Leute denken." Die US-Zeitung ging den Hypothesen nach.
- Ein möglicher Grund liegt in einer verzögerten Behandlung - dass die Pandemie die Menschen dazu veranlasst hat, die Behandlung verschiedener Probleme aufzuschieben, abgesagte Termine wurden nicht nachgeholt und damit Diagnosen oder Behandlungen verzögert.
- Eine weiterer Grund könnte in indirekten Auswirkungen der Pandemie-Maßnahmen liegen: Soziale Isolation, Angst oder Arbeitslosigkeit können eine Vielzahl von Erkrankungen verschlimmern sowie Auswirkungen auf die Mordrate, Selbstmordrate oder Drogen-Missbrauch haben.
- Eine dritte Hypothese betrifft Long Covid, dass bei Genesenen zum Beispiel das Herz-Kreislauf-System noch lange nach einer Infektion betroffen sein kann. "Wir haben noch nicht wirklich das gesamte Spektrum und die Breite der Krankheit erfasst", meint Yale-Immunbiologin und Long Covid-Expertin Akiko Iwasaki im Interview mit der New York Times. "Wir sind noch am Lernen."
- Ebenso ein viel diskutiertes Thema betrifft die Reinfektionen: Experten weisen darauf hin, dass Reinfektion vermieden werden sollten, vor allem, wenn man sich nicht in bester Verfassung befindet, und dass eine Reinfektion in bestimmten Fällen zum Tod eines Patienten beitragen kann, der nicht an einer klassischen Pneumonie durch Covid-19 im Krankenhaus gestorben ist.
- Eine weitere Hypothese betrifft mögliche Schädigungen/Schwächungen des Immunsystems nach einer Coronavirus-Infektion. Ein Thema, das auch in Europa heftigt diskutiert wurde, wie der KURIER berichtete.
Todesfälle im eigenen Heim
Jede Hypothese ist möglich, auch eine Kombination. Aber wie Jeremy Faust und Benjy Renton von der Harvard Universität darlegen, geht jeder Spitzenwert der Übersterblichkeit mit einem Spitzenwert der Covid-19-Todesraten einher. Dasselbe gilt für den jeweiligen Tiefpunkt der Kurve. Wenn also verzögerte Krebsbehandlungen und nicht diagnostizierte Herzkrankheiten ein Mitgrund für die Übersterblichkeit ist, warum läuft dieser Effekt mit den Wellen der offiziellen Covid-Todesfälle parallel, fragt die New York Times.
Gründe wie Autounfälle, Mord, Selbstmord, Überdosis wären laut Faust zwar zu Beginn der Pandemie sprunghaft angestiegen, aber seitdem konstant. Diese Faktoren würden zudem vor allem junge Menschen betreffen, die Übersterblichkeit jedoch die ältere Generation.
Wären in erster Linie Long Covid und Folgeerkrankungen für die Übersterblichkeit verantwortlich, würde man erwarten, dass die Übersterblichkeit in einem bestimmten Intervall nach jeder einzelnen Welle ansteigt - vielleicht ein paar Wochen oder ein paar Monate später. Doch obwohl es im Jahr 2022 mehr US-Infektionen gab als in den beiden Vorjahren, war jener Teil der überschüssigen Übersterblichkeit in absoluten Zahlen tatsächlich geringer als im Jahr 2020.
Harvard-Mediziner Faust glaubt zumindest einen Teil des Rätsels gelöst zu haben: Die überhöhte Übersterblichkeit setze sich zu einem großen Teil aus Todesfällen durch Covid-19 zusammen, die zu Hause auftraten und deshalb nicht ordnungsgemäß erfasst oder registriert worden seien. Im häuslichen Umfeld kann ein Todesfall auf Covid-19 nur mit einem positiven Test zurückgeführt werden. Ein erheblicher Teil dieser Todesfälle würde also nicht diagnostiziert. Im Krankenhaus hingegen würden alle Patienten getestet und es könnten auch mehrere Ursachen auf dem Totenschein vermerkt werden, so Faust.
Man kann darüber streiten, ob die Infektion eine Hauptursache oder nur eine Mitursache für diese Todesfälle war. Aber der Grund, warum wir so eine hohe Übersterblichkeit haben, sind die Covid-Wellen, die mit den Höhen und Tiefen in den Diagrammen zusammenpassen, sagt Faust. "Ich vermute, dass wir irgendwann herausfinden werden, dass von diesen 200.000 bis 300.000 überzähligen Todesfällen 80 bis 90 Prozent auf Covid zurückzuführen sind."
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