Psychoanalytiker: Wie Versöhnung nach Corona gelingen kann"
Der Psychoanalytiker und Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Stephan Doering, leitet die Uni-Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der MedUni Wien und ist Vizepräsident der Sigmund-Freud-Gesellschaft.
KURIER: Die Bundesregierung will nach drei Jahren Pandemie die „Hand ausstrecken“ und einen Dialogprozess einleiten. Hat so eine Initiative – nach allem, was war – eine Chance?
Stephan Doering: Ich halte es für total wichtig, dass man allen gesellschaftlichen Gruppen immer wieder den Dialog anbietet – das heißt nicht, dass man einer Meinung sein muss. Aber es ist wichtig, die Dinge anzusprechen, die für Konflikte gesorgt haben.
Es wurde auch von einem „Versöhnungsprozess“ geschrieben. Kann es auf gesellschaftlicher Ebene um „Versöhnung“ gehen? Oder ist da nicht der Begriff „Aufarbeitung“ passender?
Versöhnung sehe ich eher im privaten Bereich als passenden Begriff. Zwei Menschen anerkennen, dass es zu Verletzungen gekommen ist, dass sie manches heute vielleicht anders sehen, manches nicht, aber dass sie trotzdem die Absicht haben, ihren Konflikt zu begraben. Und dass es ihnen leidtut, wenn der andere verletzt wurde. Mit gesellschaftlichen Gruppen kann man sich nicht pauschal versöhnen, da ist Aufarbeitung der bessere Begriff.
Und wenn eine gesellschaftliche Gruppe den Dialog von vornherein ablehnt? FPÖ-Chef Kickl spricht von einem „Verhöhnungsprozess“.
Man kann niemandem einen Dialog aufzwingen. Aber diese Haltung gilt ja nicht automatisch für alle FPÖ-Parteimitglieder oder für alle Maßnahmengegner. Und es geht ja auch nicht darum, dass Impfgegner plötzlich sagen, „ich lasse mich impfen“, und Impfbefürworter plötzlich die Impfung ablehnen. Das Wichtige ist, dass man Dinge aussprechen und unterschiedliche Standpunkte vertreten kann, ohne sich den Schädel einzuschlagen. Und dass man ehrlich gemeinte Entschuldigungen für persönliche Verletzungen annimmt.
Bundeskanzler Nehammer hat von Corona als „eine Art Trauma“ für die Gesellschaft gesprochen. War die Pandemie ein Trauma?
Der Traumabegriff wird heute sehr inflationär verwendet und verwässert. Im psychiatrisch-psychologischen Sinn ist ein Trauma das Erleben einer unmittelbaren Bedrohung des Lebens und der körperlichen Integrität – also etwa, wenn ich in einen Unfall verwickelt bin und Todesangst habe. Abgesehen von einem Aufenthalt auf der Intensivstation oder dem Tod eines nahen Angehörigen, war so ziemlich alles, was mit der Pandemie zusammenhängt, kein Trauma, aber vielfach ein stark belastendes Lebensereignis.
Da laufen aber ganz andere Prozesse im Gehirn ab. Bei einem Trauma kommt es zu dramatischen Störungen von Gehirnfunktionen. Belastende Lebensereignisse können eine Depression auslösen, es kann einem sehr schlecht gehen, aber es ist trotzdem kein Trauma. Das heißt nicht, dass viele Menschen nicht stark und lange gelitten haben, gerade auch viele Kinder. Aber mit dem Begriff Trauma sollte man vorsichtig sein.
Für heftige Reaktionen sorgte ein im „Standard“ zitierter Satz Nehammers: „Wir waren expertenhörig, nun sollen Experten erklären, warum sie zu dieser Entscheidung gekommen sind.“
Diese Aussage unterstellt, dass die Experten möglicherweise nicht ordentlich gearbeitet haben. Jetzt im Nachhinein von Experten eine Rechtfertigung für ihre Empfehlungen zu verlangen, beinhaltet eine Vorverurteilung. Ich gehe davon aus, dass von der Regierung angefragte Expertinnen und Experten nach dem damaligen Wissen gewissenhaft beraten haben. Und die Verantwortung liegt bei der Regierung, die in manchen Dingen den Experten gefolgt ist, in anderen aber nicht.
Wichtig wäre, dass Experten und Regierung gemeinsam klarstellen, diese Entscheidung war richtig und jene würden wir mit dem heutigen Wissen nicht mehr so fällen. Ich bin also sehr wohl dafür, zu benennen, was man mit heutigem Wissen anders machen würde, aber gleichzeitig auch zu betonen, was alles richtig und gut gelaufen ist – und das war eigentlich sehr viel.
Was ist von Sätzen zu halten wie „Experten und Politik sind schuld, dass es zu der oder der Maßnahme kam“?
Den Schuldbegriff finde ich im Zusammenhang mit Entscheidungen in der Pandemie als problematisch und unpassend. Das ist eine pauschale Verdächtigung der Wissenschafterinnen und Wissenschafter, für die es keine Grundlage gibt. Vieles war in der Pandemie nicht vorherzusehen, vieles weiß man heute besser. Man muss auch unterscheiden zwischen der Übernahme von Verantwortung für Entscheidungen, die man heute so nicht mehr treffen würde, und der Schuld, die bei einer bewussten Irreführung oder Annahme vor Vorteilen auf Kosten anderer entsteht.
Wenn jemand eine Party organisiert hat zu einem Zeitpunkt, wo dies nicht erlaubt war, und es kam zu einer tödlich verlaufenden Infektion, dann kann man, wenn alle Fakten vorliegen, über Schuld reden. Aber das ist ganz etwas anderes.
Wir brauchen eine gesellschaftliche Diskussion und Aufarbeitung, wie es zu Entscheidungen kam – aber das darf zu keiner Anklage werden. Es geht um ein gemeinsames Lernen und herausfiltern der Dinge, die man bei der nächsten Pandemie anders – oder auch genauso – machen würde.
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