Long Covid: Warum ein tieferes Verständnis der Erkrankung notwendig ist
Eine Überlastung des Gesundheitssystems droht nicht, für den einzelnen ist es aber dennoch unangenehm: "Die letzten Tage hatten wir wieder vermehrt Covid-19-Aufnahmen im Krankenhaus", schreibt der Lungenfacharzt Arschang Valipour, Leiter der Abteilung für Innere Medizin und Pneumologie im Krankenhaus Floridsdorf in Wien, auf Twitter. "Der Anstieg war erwartet und wird vermutlich nur eine kleine Welle sein Problematisch ist allerdings, dass viele unserer Patient*innen verdutzt sind. 'Covid-19 gibt es ja nicht mehr'".
Und auch wenn "die Wahrscheinlichkeit, heute Long Covid zu bekommen, deutlich abgenommen hat im Vergleich zu 2020/2021, ist sie jedoch noch immer existent", unterstreicht Valipour. Betroffene fühlen sich nach wie vor "unterversorgt", mitunter aufgrund mangelnder Anlaufstellen, Expertise und therapeutischer Optionen.
Der US-Experte Eric Topol spricht von der "Pandemie nach der Pandemie". Die derzeitigen Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten seien absolut unzureichend, rund zehn Prozent der Patientinnen und Patienten nach einer Covid-19-Infektion sind betroffen. Doch vieles ist noch unklar, wie Long Covid genau entsteht. Zwei Top-Experten haben jetzt die wichtigsten offenen Punkte aufgelistet.
"Wir brauchen ein tieferes Verständnis der Pathophysiologie von Long Covid", schreiben die renommierte Immunologin Akiko Iwasaki von der Yale Universität und der Neurophysiologe David Putrino von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York in einem Kommentar im Fachmagazin The Lancet. Die Pathophysiologie ist die Lehre von den krankhaft veränderten Körperfunktionen, sowie ihrer Entstehung und Entwicklung.
Nach jüngsten Schätzungen leben weltweit mehr als 65 Millionen Menschen mit Post-Covid-Symptomen. "Ohne klare Diagnose- oder Behandlungsmöglichkeiten nimmt diese Zahl stetig zu", schreiben die beiden Experten. "Es gibt mehr als 200 Symptome, die mit Long-Covid in Verbindung gebracht werden und die praktisch jedes Organsystem betreffen."
Zu den häufigsten Symptomen zählen Müdigkeit, Erschöpfung und eingeschränkte Belastbarkeit (Fatigue), Kurzatmigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Schlafstörungen sowie Muskelschwäche und -schmerzen.
Obwohl sich einige der Betroffenen mit dem Fortschreiten der Zeit erholen, haben viele Menschen seit Anfang 2020 Symptome.
Verschiedene Faktoren können das Erscheinungsbild von Long Covid beeinflussen: Die Schwere der akuten Infektion, das Alter, Geschlecht, vorbestehende Erkrankungen, genetische Faktoren, soziale und andere Umweltfaktoren. Bei den Betroffenen gibt es zwei große Gruppen:
- Bei den Langzeitpatienten, die eine schwere akute Sars-CoV-2-Infektion überlebt haben, handelt es sich meist um Männer im Alter von über 50 Jahren mit bleibenden Gewebeschäden.
- Personen, die nach einer weniger schweren Infektion unter Long Covid leiden sind sehr häufig jüngeren Frauen (im Alter von 36 bis 50 Jahre), bei denen die akute Infektion negative körperliche Reaktionen ausgelöst hat.
Zur Entstehung der Erkrankung gibt es nach wie vor unterschiedliche Hypothesen:
- Infektiöse Viren, Virus-RNA oder Virus-Proteine verbleiben im Körper
- Die akute Infektion löst dauerhafte Reaktionen des Immunsystems gegen körpereigenes Gewebe aus (Autoimmunität)
- Andere im Körper im Verborgenen (latent) "schlummernde" Viren werden reaktiviert
- Eine anhaltende Entzündung im Körper führt zu Funktionsänderungen und Schäden an verschiedenen Gewebetypen
Laut Iwasaki und Putrino gebe es immer mehr Beweise dafür, dass Sars-CoV-2 eine Vielzahl von Zelltypen infiziert und dort seine RNA (Erbsubstanz) und Proteine produziert. Darunter sind der Verdauungstrakt, die Atemwege, das Herz-Kreislauf-System, Haut-, Muskel- und Nervensytem."Zirkulierende Spike-Proteine (Oberflächenproteine, Anm.) werden bei 60 Prozent der Patienten mit Long-Covid zwischen 2 und 12 Monaten nach der Infektion beobachtet."
Obwohl dieses Vorhandensein von Virus-RNA und Virus-Proteinen nicht unbedingt ein Zeichen für eine anhaltende Infektion ist, kann virale RNA Reaktionen des Immunsystems auslösen, virale Proteine können Gewebeschäden verursachen und es kann zu einer chronischen Entzündung kommen. Auch Antikörper, die vom Immunsystem gebildet werden und sich gegen körpereigenes, gesundes Gewebe richten, können eine Rolle spielen.
Zunehmend existieren auch Daten, dass es bei Personen mit Long Covid zu einer Reaktivierung schlummernder Herpesviren kommt, ebenso zu einer Reaktivierung latenter Epstein-Barr-Viren.
Und: Eine lokale Entzündungsreaktion als Reaktion auf Sars-CoV-2 in einem Organ kann zu dauerhaften krankhaften Veränderungen in entfernten Geweben und Organen führen. So hat man bei Mäusen gesehen, dass selbst eine milde, auf die Lunge beschränkte Covid-19-Erkrankung (bei der das infektiöse Virus innerhalb einer Woche nicht mehr nachweisbar war) bis zu sieben Wochen nach der Infektion anhaltende Veränderungen im Zentralnervensystem hervorruft.
Neben diesen potenziellen Ursachen für Long Covid werden bei den Betroffenen viele daraus entstehende Krankheitssymptome beobachtet, darunter Verschlüsse kleiner Gefäße ("microclots"), eine Aktivierung der Blutplättchen, niedrigere Cortisol-Spiegel und Beeinträchtigungen der Funktionsweise der Mitochondrien (Kraftwerke der Zellen), heißt es in dem Fachartikel.
"Ein organisches Syndrom"
Die Autoren betonen, dass es sich bei Long Covid um ein "organisches postakutes Infektionssyndrom (PAIS)" handelt, mit einer eindeutigen Störung von Körperfunktionen, das mit den medizinischen Standarddiagnosetests oft nicht eindeutig zu erkennen ist.
Diese Diskrepanz unterstreiche den Bedarf an einer neuen Generation empfindlicherer Testverfahren für Menschen mit PAIS.
"Obwohl nicht bekannt ist, ob vorbestehende psychologische Diagnosen das Risiko für das Auftreten von Long-Covid beeinflussen könnten" (z. B. durch Einflüsse auf das Stoffwechsel- und das Immunsystem), sei es wissenschaftlich nicht haltbar, Long Covid als psychosomatisches Leiden einzustufen.
Biomarker gesucht
Die beiden Autoren sehen die Problematik, dass es angesichts fehlender Schutzmaßnahmen immer schwieriger werde, Covid-19 zu vermeiden. Deshalb sei es notwendig, Biomarker (charakteristische biologische Merkmale) zu identifizieren, die das Risiko des Einzelnen, an Long Covid zu erkranken, besser definieren können. Dies könnte bei der Früherkennung und Behandlung gefährdeter Personen helfen.
Könnte man damit die individuellen Auslöser näher definieren, wären auch Behandlungen möglich, die gezielt an der individuellen Ursache ansetzen. Bei einer Autoimmunerkrankung könnten es etwa spezielle Antikörper sein. Handelt es sich um eine Reaktivierung von Herpesviren, könnten bestimmte antivirale Medikamente eingesetzt werden. Wobei es hier idealerweise noch Studien zur Bewertung solcher Therapien benötige.
Iwasaki und Putrino betonen auch, dass auch Erkrankungen mit überlappenden Symptomen zu Long Covid, wie ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom), eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, in die Forschung eingebunden werden müssen. Auch dabei handle es sich um ein organisches postakutes Infektionssyndrom.
In den nächsten Wochen startet auch an österreichischen Zentren eine Studie mit dem Wirkstoff BC007 zur Long-Covid-Behandlung, wie etwa Lungenfacharzt Valipour auf Twitter bekannt gegeben hat. BC 007 bekämpft sogenannte Autoantikörper, die sich gegen körpereigene Strukturen wenden und dabei unter anderem auch die Durchblutung verschlechtern. Mit Ergebnissen ist aber nicht vor Jahresende zu rechnen. Bei einem Erfolg wäre es das erste Long-Covid-Medikament.
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