"Post-Vac-Syndrom": Chronisch krank nach der Corona-Impfung?
Die Covid-19-Schutzimpfungen haben global gesehen Millionen Menschleben gerettet. Laut einer im heurigen April auf dem Europäischen Mikrobiologenkongress präsentierten Studie waren es allein in Europa zwischen Dezember 2020 und März 2023 rund eine Million verhinderte Todesfälle. Und eine Untersuchung des Imperial College London geht von weltweit 20 Millionen verhinderten Todesfällen allein im ersten Jahr der Pandemie aus.
Wie bei anderen Impfungen auch kann es aber in seltenen Fällen zu anhaltenden und auch schweren Nebenwirkungen kommen. "Post-Vac-Syndrom" (englisch "vaccination" = Impfung) ist eine häufig verwendete Bezeichnung. Betroffene fühlen sich vom Gesundheitssystem vielfach nicht ernst genommen und ausreichend unterstützt und demonstrierten kürzlich auch vor dem Gesundheitsministerium.
An der Universitätsklinik Marburg in Deutschland gibt es auf der "interdisziplinären Post-Covid-Ambulanz" auch eine "Spezialsprechstunde Post-Vax". "Es sind eigentlich identische Symptome, wie wir sie auch von Post-Covid-Patienten nach einer Infektion kennen", wird der Kardiologe Bernhard Schieffer, der die Spezialaimbulanz leitet, auf tagesschau.de zitiert. Konzentrationsschwierigkeiten, Blutdruckschwankungen, plötzliches Herzrasen, Sehstörungen, lang anhaltende Kopfschmerzen und chronische Müdigkeit seien die häufigsten Symptome, ähnlich wie auch bei Post-Covid-Patienten nach einer Infektion.
Im österreichischen Gesundheitsministerium heißt es, dass es bis dato weder eine international anerkannte, klare Definition von "Post Vac" noch eine eindeutige Abgrenzung zu "Long Covid" (als Folge einer Infektion mit dem neuen Coronavirus) gebe.
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Allerdings: Im Vergleich zu Post Covid nach einer Infektion treten derartige Symptome nach Impfungen deutlich seltener auf.
"Eine Meta-Analyse von gepoolten Daten aus zehn Kohortenstudien aus UK zeigt, dass die Häufigkeit von Long-Covid-Symptomen (nach Infektionen, Anm.) mit funktionellen Einschränkungen im Alltag nach 4 bis 12 Wochen zwischen 3,0 % und 13,7 % und nach 12 Wochen zwischen 1,2 % und 4,8 % liegt", schreibt das deutsch Robert-Koch-Institut.
Hingegen liege die Zahl der Fälle mit anhaltenden Beschwerden in zeitlicher Nähe zu Impfungen im Promillebereich, könne aber nur geschätzt werden, so Schieffer: "0,02 Prozent oder ein bisschen höher."
Auch die Grazer Ärztin und Impfgutachterin Andrea Grisold ging in der ORF-Sendung Dok1 ("Die verschwundene Seuche - was wurde aus Covid-19?") von einer ähnlichen Größenordnung aus:
- Pro 1.000 Impfungen komme es zu einer bis sechs Meldungen von Impfschäden.
- Bei rund 10 Prozent davon seien die anhaltenden Beschwerden nach der Impfung tatsächlich auf diese und nicht auf andere Ursachen zurückzuführen - als bei 0,01 bis 0,06 Prozent der Geimpften.
Das deutsche Paul-Ehrlich-Institut (PEI) führt eine eigene Kategorie an speziellen Verdachtsfällen von Nebenwirkungen in unterschiedlichem zeitlichen Abstand nach einer Covid-Impfung. Darin sind Verdachtsfälle zusammengefasst, die unter den Begriffen "Long-/Post-Covid-ähnlich", "chronisches Erschöpfungssyndrom" (CFS/ME), "posturales Tachykardiesyndrom" (POTS, v. a. abnormaler Anstieg der Herzfrequenz beim Aufsetzen oder Aufstehen), "Post-exertional Malaise" (PEM, Unwohlsein nach Belastung) oder als "Post-Vac" bezeichnet werden:
- Demnach wurden bei mehr als 192 Millionen Covid-Impfungen in Deutschland 1.547 derartige Verdachtsfälle gemeldet.
- Pro 100.000 Impfungen gibt es eine Melderate von weniger als einem Verdachtsfall (0,73).
"Somit werden solche Verdachtsfälle extrem selten im zeitlichen Zusammenhang mit Covid-19-Impfungen berichtet, schreibt das PEI.
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Allerdings betont man bei PEI, dass ein Verdachtsfall ohne Abklärung noch keine Aussage darüber ermöglicht, ob tatsächlich die Impfung der Auslöser der Beschwerden war. Denn sehr häufig fehlten bei den Verdachtsfallmeldungen "wichtige klinische Informationen". Die "diagnostische Sicherheit" der berichteten Gesundheitsstörungen könne in den meisten Fällen nicht beurteilt werden.
"Es ist extrem schwierig zu identifizieren, welcher Patient tatsächlich eine - mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit - Nebenwirkung von der Impfung hat und welche Patienten irgendwelche anderen immunologischen Konstellationen haben, die dann mit der Impfung das Fass zum Überlaufen bringen", sagte Schieffer im ZDF.
Die genauen Ursachen für das Post-Vac-Syndrom sind nicht bekannt. Wie auch bei einer Infektion könnte die Impfung in seltenen Fällen zu einer überschießenden Reaktion des Immunsystems führen. Ein sich hoch schaukelndes Immunsystem sieht auch Schieffer bei den meisten Patientinnen und Patienten. "Das verselbstständigt sich dann im Sinne einer Autoimmunerkrankung", wird er auf tagesschau.de zitiert. Der Körper schaffe es nicht, diese selbst verursachte Entzündungsreaktion aufzulösen. "Dann läuft immer eine Spirale los, die am Ende zu einer Erschöpfung des Immunsystems führt."
Die tatsächlichen Post-Vac-Fälle seien auch kein Argument gegen die Impfung, betont Schieffer. "Bei all dem, was wir abschätzen können, hat sie so viel mehr an Vorteil gebracht, auch in bestimmten Bevölkerungsgruppen, an Freiheitsräumen und auch an Sicherheit, dass wir auch heute immer noch sagen können, bei all den Patienten, die wir sehen, dass diese Impfung uns große Freiheiten gebracht hat, die wir auch nicht missen wollen."
Erst Ende September zeigte eine US-Studie, dass eine Infektion mit SARS-CoV-2 das Risiko für Herzerkrankungen und Schlaganfälle erhöht. Denn das Virus kann unter anderem die Herzarterien infizieren und die Bildung von Plaques (Ablagerungen an den Gefäßwänden) auslösen, die dann letztlich zu einem Gefäßverschluss führen können. Es kommt zu einer Beschleunigung der Atherosklerose, wie es aerzteblatt.de beschreibt.
Selbsthilfegruppe: "Keine Anlaufstellen im Gesundheitssystem"
Bei Post-Vac-Syndrom Austria, "Selbsthilfegruppe für Impfschäden und Nebenwirkungen der Covid-19-Impfung", geht man von höheren Zahlen Betroffener aus. "Innerhalb von nur zwei bis drei Monaten haben sich mehr als 850 Menschen bei uns gemeldet", sagt die Obfrau Gabriela Buxbaum. Allerdings sind das keine bestätigten Fälle von Impfschäden: "Aber es können nicht alle falsch liegen", ist die frühere Pflegehelferin überzeugt. Sie selbst sei "zwei bis drei Wochen nach der zweiten Corona-Impfung" schwer krank geworden, zittere am ganzen Körper und benötige mittlerweile einen Rollstuhl.
Sie habe bis jetzt zwischen 5.000 und 10.000 Euro für Arzttermine und spezielle Blutbefunde ausgegeben, um einen Zusammenhang mit einer Impfung zu beweisen. Sie kann Facharztbefunde vorlegen, in denen ein Zusammenhang ihrer Beschwerden mit der Impfung wörtlich als "sehr plausibel" bezeichnet wird.
"Wir sind keine Impfgegner, wir sind ja impfen gegangen. Aber jetzt lässt man uns hängen und wir finden keine Anlaufstellen im öffentlichen Gesundheitssystem. Wir werden von vielen Ärztinnen und Ärzten nicht ernst genommen." Außerdem werde bei den wenigsten die Impfung als Ursache der Beschwerden bestätigt. "Und der Gesundheitsminister stellt sich taub."
Im Gesundheitsministerium verweist man darauf, dass die Zuständigkeit für die stationäre Behandlung in Krankenanstalten bei den Bundesländern liege. "Ob die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Post-Vac-Syndrom in einer Spezialambulanz, oder durch die Zusammenarbeit mehrere symptombezogener Fachabteilungen" erfolge, bleibe den Bundesländern überlassen. Behandlungen im niedergelassenen Bereich "erfolgen durch die Leistungspartner der Sozialversicherung".
Buxbaum sieht das anders: "Wir müssen viele Kosten selbst tragen, im Kassensystem werden wir nicht ausreichend gehört und müssen deshalb Arzttermine privat zahlen." Auch viele spezielle Blutuntersuchungen würden nicht bezahlt.
Wie oft Impfschäden bisher anerkannt wurden
Das Gesundheitsministerium hat dem KURIER jetzt die aktuellen Zahlen (Stand 2.10.) zu Anträgen nach dem Impfschadengesetz übermittelt, inklusive der Höhe der Entschädigungszahlungen:
- 2.166 Anträge wurden aufgrund einer Covid-19-Impfung eingebracht.
- 294 Anträge wurden bisher anerkannt.
- 675 Anträge wurden abgewiesen.
Die Entschädigungen können entweder Einmalzahlungen oder Rentenzahlungen sein:
- 246 Personen erhielten Pauschalentschädigungen zwischen 1.305,50 und 8.683,00 Euro. Durchschnittlich kamen rund 1.900 Euro zur Auszahlung.
- 19 Personen erhalten eine dauerhafte Rente von monatlich knapp 600 Euro.
Als Gesundheitsschädigungen seien u.a. Thrombosen, Myocarditis (Herzmuskelentzündung), Perikarditis (Entzündung des Herzbeutels), das Guillain-Barre-Syndrom (entzündliche Erkrankung der Nerven), Embolien sowie das Chronic Fatigue Syndrom geltend gemacht worden.
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In der ORF-Sendung Dok1 sagte Impfgutachterin Grisold auch, dass es von der Stellung des Antrags bis zum Eintreffen bei einem Gutachter bis zu zwei Jahre dauern könne. Buxbaum spricht von Fällen, in denen die Betroffenen mehr als ein Jahr auf die Begutachtung warten mussten: "Und die meisten Anträge werden abgelehnt."
Im Gesundheitsministerium verweist man darauf, dass sich mit den Covid-19-Impfungen die Anträge auf Leistungen nach dem Impfschadengesetz "vervielfacht" haben. "Die administrativen Abläufe wurden der Vielzahl der Anträge angepasst, insbesondere was die Zusammenarbeit zwischen der Administrative und dem ärztlichen Dienst betrifft. Darüber hinaus wurden die Bemühungen, die Gutachtenerstellung für Ärztinnen und Ärzte attraktiver zu gestalten, intensiviert."
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Bei den genannten langen Wartezeiten handle es sich um Einzelfälle. "Der Aufwand eines jeden Antrages ist unterschiedlich. Hervorzuheben ist jedoch, dass seit Ende Jänner 2023 mit wenigen Ausnahmen eine höhere Anzahl an Verfahren erledigt wurde, als innerhalb der Auswertungsperioden Anträge neu einlangten."
Nobelkomitee: "Millionen Menschenleben gerettet"
Weltweit wurden bisher mehr als 13 Milliarden Corona-Impfdosen verabreicht, in Österreich sind es mehr als 20 Millionen.
Auch das Nobelkomitee schrieb anlässlich der Vergabe des heurigen Medizinnobelpreises an die Wegbereiter der mRNA-Impfstoffe, Katalin Karikó und Drew Weissman, dass die Impfstoffe Millionen Menschenleben gerettet und schwere Erkrankungen bei vielen anderen verhindert haben: "Sie ermöglichten es der Gesellschaft, zu einem normalen Leben zurückzukehren."
Die aus Ungarn stammende Biochemikerin Karikó betonte selbst in Interviews immer wieder, dass die Impfung sehr sicher und wirksam sei, auch wenn es Nebenwirkungen gebe. "Es gibt keine Medizin ohne Nebenwirkungen. Aber sie sind sehr gering, auch im Vergleich zu anderen Impfungen."