Massentests: Patentrezept zur Pandemiebekämpfung?
Testet man 75 Prozent der Bevölkerung alle drei Tage, wäre die Corona-Pandemie nach nur sechs Wochen besiegt. Mit dieser verheißungsvollen Theorie macht ein Team um den Harvard-Epidemiologen Michael J. Mina derzeit von sich reden. "Das Modell klingt verlockend", schickt Epidemiologe Gerald Gartlehner voraus, "aber es geht leider am echten Leben vorbei".
Nicht nur der organisatorische Aufwand sei unmöglich zu stemmen, "ich bezweifle auch, dass die Menschen Willens wären, das in dieser Form durchzumachen", sagt der Experte für Evidenzbasierte Medizin von der Donau-Universität Krems.
Weil sich SARS-CoV-2 vielerorts wieder explosionsartig ausbreitet, wird händeringend nach einem viralen Wellenbrecher gesucht. Als probates Mittel gelten seit einiger Zeit Massentestungen per Antigenverfahren, die im Vergleich zur PCR-Methode rascher und kostengünstiger Ergebnisse liefern. Nach Südtirol und der Slowakei plant man sie auch hierzulande.
Großangelegte Testprojekte können durchaus vernünftig sein, sagt Gartlehner. "Sie müssen aber zielgerichtet eingesetzt und regelmäßig in zeitnahen Intervallen wiederholt werden, mindestens einmal pro Woche." Bei Massenscreenings über ganze Bevölkerungen und damit Millionen Menschen hinweg ist er skeptisch: "Das kann kaum nachhaltig sein, weil es unmöglich ist, so viele Menschen mehrmals zu testen."
Weil Antigentests lediglich Momentaufnahmen darstellen, stünde man "in zwei bis drei Wochen wieder dort, wo man vorher war".
Heikle Unschärfe
Ein weiteres Problem: Antigentests sind nicht ganz so zuverlässig wie der Virusnachweis per PCR. Es bestehe sowohl die Gefahr falsch-negativer als auch falsch-positiver Ergebnisse, bemängelt etwa die Ärztekammer. "Im Endeffekt sind bei großflächigen Tests sicher die falsch-negativen Ergebnisse auch ein Dilemma", sagt Gartlehner. Falsche Alarme bei Gesunden seien zwar aufgrund der hohen Anzahl problematisch, erhalten Menschen, die das Virus in sich tragen, aber einen Corona-Freibrief, "kann das bei Millionen Getesteten zum massiven Problem werden".
IHS-Gesundheitsökonom Thomas Czypionka sieht noch eine andere Schwierigkeit: "Österreich ist keine Insel. Wenn umgebende Staaten nicht mitmachen, wird es kaum zu schaffen sein, das Virus alleine nachhaltig zu eliminieren." Unter den momentanen Umständen mache eine Massentestung "zur Verhinderung eines Lockdowns am meisten Sinn". Bei steigenden Fallzahlen könne man so die Inzidenz reduzieren, ohne das Land zuzusperren. Wichtig sei, dass ausreichend mit der Bevölkerung kommuniziert wird, um sie für das Projekt zu gewinnen.
Fokussiertes Screenings – etwa vor Großveranstaltungen – könnten das Leben deutlich erleichtern, sind Gartlehner und Czypionka überzeugt. "Auch ein Testen von Bevölkerungsteilen, bei denen Kontaktfrequenz und Zahl der Asymptomatischen hoch ist, etwa in Schulen oder unter jungen Erwachsenen, ist sinnvoll", erklärt Czypionka. Weiteres empfehlen sie Testreihen in Senioren- und Pflegeeinrichtungen oder in Regionen, wo das Infektionsgeschehen sehr hoch ist. Gartlehner: "Hier lassen sich Tests auch gut wiederholen und bei Veranstaltungen hat man für einige Stunden auch relative Sicherheit, nicht ansteckend zu sein."
Pluspunkte
Harvard-Epidemiologe Mina stellt Massentests in seiner Studie, die als Preprint erschienen ist und erst noch von Fachexperten begutachtet werden muss, dennoch ein gutes Zeugnis aus. Sie seien ein effizientes Mittel, um Superspreader zu isolieren und Kollateralschäden auf wirtschaftlicher und psychosozialer Ebene zu begrenzen. "Wir haben es mit einer Pandemie zu tun, die Volkswirtschaft und Gesellschaft vor härteste Proben stellt, sodass neue Ansätze auszuprobieren gerechtfertigt erscheint. Manche Kritiker verkennen ein bisschen die Lage", betont auch Czypionka.
Laut Mina gebe es ohnehin nur ein kurzes Intervall im Laufe einer Corona-Infektion, in dem Antigentests eine Ansteckung tatsächlich übersehen. "Ein Zeitfenster, in dem Betroffene oft gar nicht ansteckend sind", heißt es. Antigentests als individuelle Ansteckungsbarometer zu nutzen, könnte tatsächlich sinnvoll sein. So identifizierten etwa groß angelegte Massenscreenings in Wuhan – dort wurden im Mai fast alle zehn Millionen Einwohner per PCR getestet – zwar einige hundert symptomlose Infizierte. Von ihren über Tausend Kontaktpersonen wurde jedoch niemand angesteckt.
Um ein Restrisiko auszuschließen, sollen bei Großevents trotz Screening Masken getragen werden, betont Mina, der auch für Do-it-yourself-Antigentests plädiert. Gartlehner dazu: "Wenn die Testgüte ausreichend ist, jemand mit negativem Ergebnis also auch mit hoher Wahrscheinlichkeit negativ ist, können auch Selbstabnahmeverfahren oder Abnahmen in Apotheken zielführend sein. Die Alternative wäre, sich vor dem Besuch der Großeltern gar nicht zu testen und das Risiko nicht zu minimieren – und das ist jedenfalls die schlechtere Lösung."
Auch Czypionka hält eine Selbstanwendung prinzipiell für möglich und vorteilhaft, weil "es die Logistik weit einfacher macht. Sie ist aber natürlich fehlerbehafteter und die Tests sind derzeit auch noch nicht dafür zugelassen. Das Virus vermehrt sich nämlich an der Rachenhinterwand, andere Entnahmeorte, die einfacher zugänglich sind, haben nur unter günstigen Bedingungen zum Nachweis ausreichende Viren."
Gartlehner warnt jedenfalls davor, die geplanten Massentests in Österreich als Freibrief für kontaktfreudiges Verhalten an den bevorstehenden Weihnachtstagen zu missverstehen: "Sonst entstehen erst recht wieder neue Cluster." Langfristig werden Massentests womöglich nicht der vollständigen Kontrolle der Pandemie dienen. Sie könnten aber sehr wohl ein wichtiger Baustein im Kampf gegen das Virus sein.
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