Nie wieder Lockdown: Was es jetzt dringend braucht
Knapp 7.000 Neuinfektionen in den vergangenen 24 Stunden verzeichnete das Gesundheitsministerium am Donnerstag. Deutlich weniger als vor einer Woche (9.262), aber immer noch sehr hoch. Die Hoffnung ist berechtigt, dass die Infektionen weiter sinken, schließlich ist Österreich seit Dienstag im zweiten Lockdown – und das zumindest bis zum 6. Dezember.
Aber wie soll danach verhindert werden, dass innerhalb weniger Wochen die Infektionszahlen erneut dermaßen steigen, dass ein dritter Lockdown unvermeidbar wird? SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner warnte zuletzt im KURIER am Sonntag vor diesem Szenario, "wenn sich das Covid-Management nicht dramatisch verbessert".
Emmentaler-Modell
Ein Teil der Lösung hat mit einem löchrigen Schweizer Käse zu tun. Das Prinzip ist folgendes (siehe Grafik): Jede gesetzte Maßnahme gegen die Ausbreitung des Coronavirus birgt Lücken, der Mund-Nasen-Schutz etwa schützt nicht zu 100 Prozent vor einer Infektion, ebenso nicht das Abstandhalten. Auch die diversen Corona-Tests, speziell Antigen-Tests, sind nicht absolut sicher, nicht einmal die (angeblich) hocheffizienten Impfungen schützen jeden Menschen, der das Vakzin erhält.
Die Viren können also nicht durch eine einzige Käsescheibe (= Maßnahme) gänzlich aufgehalten werden, aber es stoßen zumindest deutlich weniger Viren bis zur zweiten vor. Dort finden wiederum einige Viren eine Lücke, stoßen dann aber auf die dritte, vierte, fünfte Käsescheibe. So funktioniert das vom Spanier Tomas Pueyo entwickelte Käsemodell.
"Wir müssen jedenfalls schneller sein als das Virus", sagt Virologe Christoph Steininger von der MedUni Wien. "Derzeit hinken wir mit den Maßnahmen immer nach. Wir registrieren steigende Zahlen und reagieren erst dann. Wir müssten heute anfangen, Vorbereitungen anzustoßen, um bald wieder aufsperren zu können – und zwar alles."
Patente Rezepte
Wichtig sei, auch hier nimmt Steininger Anleihen am Schweizer-Käse-Modell, "dass man sich nicht auf eine einzelne Schutzmaßnahme fokussiert, sondern viele kleine zusammenbastelt, um flexibel zu bleiben". Es gebe Umgebungen, die komplexer abzusichern sind als andere (Fitnesscenter, Chorprobenräume etc.), in Innenräumen stehe man "vor größeren Herausforderungen als draußen", sagt Steininger.
Zwei gute Nachrichten von virologischer Seite: Nach neuestem Forschungsstand scheint die Gefahr einer Neuansteckung nach durchgemachter Infektion auf Zeit großteils gebannt. Und: Im Sommer wird es jahreszeitenbedingt wieder leichter werden, die Situation zu handhaben. "Das heißt aber nicht, dass wir uns dann zurücklehnen sollten. Im Gegenteil: Diese Phase muss genutzt werden. Das wurde vergangenen Sommer verabsäumt."
Öffnung bis Tests: Wie es weitergehen soll
Abwarten
Erklärtes Ziel der Regierung ist es, dass die Schulen und der Handel nach dem 8. Dezember wieder aufsperren können. Die Schulen, weil von allen Seiten – auch von ÖVP-geführten Ländern – Druck in Richtung Normalunterricht gemacht wird. Der Handel, weil das Weihnachtsgeschäft gerettet werden soll – er wird aber weniger prioritär als die Schulöffnung behandelt. Theater, Konzertsäle, Kinos werden wohl weiter das Nachsehen haben, ganz zu Schweigen von Clubs und Bars. Ein Versprechen, dass das klappt, gibt die Regierung nicht ab. Alles hänge vom Infektionsgeschehen ab, heißt es – geöffnet wird nur, wenn sich die Lage deutlich bessert.
Absichern
Öffnungsschritte nach dem Lockdown an einer statischen Kennzahl festzumachen, hält Steininger "nicht für nachhaltig". Er plädiert stattdessen für drei übergeordnete Strategien: "Zum einen ist es meiner Meinung nach effektiv und sinnvoll, mit Testungen sicherzustellen, dass keine infizierten Menschen zusammentreffen." Zum anderen sollten jegliche Räume, in denen Menschen zusammenkommen, durch bauliche Maßnahmen so ansteckungssicher wie möglich gestaltet werden. "Was man so in puncto Schutzwirkung nicht schafft, kann mit anderen bekannten Maßnahmen – etwa Maskentragen oder Abstandhalten – kompensiert werden."
Dranbleiben
Keine Maßnahme alleine wird ausreichen, man setzt auf einen Maßnahmen-Mix: Das Käsemodell (siehe Grafik oben) erhöht jedenfalls die Chance, das Virus kaum oder gar nicht mehr zu übertragen. Die Regierung wird bei ihrem Appell bleiben, soziale Kontakte auf das Nötigste zu reduzieren – auch, wenn die Ausgangsbeschränkungen auslaufen. "Es steht und fällt mit der Anzahl an Menschen, die zusammenkommen", heißt es da. Auch die Maskenpflicht soll noch länger bleiben und nicht wieder – wie im Sommer in den Geschäften – vorübergehend ausgesetzt werden. Unabhängig davon, wie stark die Infektionszahlen gedrückt werden.
Adaptieren
Bei Eingriffen in die Bausubstanz, etwa in Schulen, der Gastronomie oder Kinos, schlägt Steininger den Einbau von Raumluftfilteranlagen vor, "die eine sehr gute Umwälzung und Reinigung der Luft ermöglichen". Digitale Lösungen, die Contact Tracing, kontaktloses Bezahlen oder Behördengänge vereinfachen, seien ebenso ratsam wie der Einsatz von künstlicher Intelligenz und Robotik: "Etwa im Einzelhandel, um Personenkontakte zu reduzieren oder bei Apps, die Besucherströme im öffentlichen Raum koordinieren." Er ist überzeugt, "dass schon jetzt viele Ansätze entwickelt wurden, um mit dem Virus bei gleichzeitig akzeptabler Lebensqualität koexistieren zu können".
Abstriche machen
Am Mittwoch traf Kanzler Sebastian Kurz die Sozialpartner zu einem Gespräch über die geplanten Massentestungen. Anders als in der Slowakei sollen sie tatsächlich freiwillig sein – Test-Unwillige sollen also nicht in Quarantäne. Die ersten Massentests werden die Lockerungsschritte begleiten, als erstes sollen also rund um den 6. Dezember der Bildungs- und Gesundheitsbereich drankommen. Insgesamt rechnet die Regierung mit rund vier Millionen Österreichern, die sich dem kostenlosen Antigen-Schnelltest unterziehen werden. Die Massentests sollen dann in mehreren Wellen wiederholt werden, zusätzlich soll es dichtere Intervalle an Screenings mit klassischen PCR-Tests geben.
Anpassen
Schnelle Antigen-Tests dienen inzwischen vielerorts als Standardmethode zum Infektionsnachweis. Steininger übt Kritik: "Das sind Medizinprodukte, die nur von medizinischem Personal, beispielsweise Hausärzten, bei Menschen mit hohem Verdacht auf eine Infektion angewandt werden. Man weiß, dass sie bei niedriger Viruslast versagen." Er warnt davor, sich zur Eventvorbereitung oder bei großen Screenings auf Antigen-Tests zu verlassen. Gut geplante Massentests könnten zwar prinzipiell zu Zonen führen, wo sich Menschen frei bewegen können. "Sie müssen aber mit klaren Konzepten und Zielen verbunden sein. Zum Beispiel mit verlässlichen Tests ganze Regionen Covid-19-frei zu testen."
Daumen drücken
Zu Herbstbeginn gab Kanzler Kurz ein Versprechen ab: "Bis zum Sommer 2021 können wir wieder unser normales Leben führen." Und bei diesem Versprechen bleibt er auch jetzt, inmitten des zweiten Lockdowns. Die Entwicklung eines Impfstoffs geht schneller voran als gedacht. Der erste Impfstoff (Pfizer/BioNTech) liegt zur Zulassung (in den USA) vor, ein zweiter soll bald folgen. Offen ist, wer zuerst geimpft wird. Die ersten Dosen, das zeichnet sich ab, dürfte das Gesundheitspersonal (Pfleger, Ärzte) bekommen, danach entweder Risikogruppen und/oder Menschen in "systemrelevanten" Jobs – das sind aber bereits rund eine Million.
Abwarten
Die kürzlich erzielten Fortschritte in der Impfstoffentwicklung sind für Steininger "sensationell". Gleichzeitig stimmt ihn der überwältigende Erfolg skeptisch: "Man kann es fast nicht glauben, weswegen man jedenfalls noch die Veröffentlichung und Prüfung der Daten abwarten muss." Sollte die Zulassung der derzeit größten Hoffnungsträger unter den Präparaten in den kommenden Wochen erfolgen, sieht der Virologe eine große Hürde: "Es ist fraglich, ob die Impfungen bei allen Menschen ausreichend wirksam sein werden. Problematisch könnte es etwa bei Älteren werden. Es ist unwahrscheinlich, dass wir binnen kurzer Zeit auf alle Maßnahmen verzichten werden können."
Aufrüsten
Die Länder, zuständig für das Contact Tracing, waren zuletzt heillos überfordert – in Summe konnten österreichweit nur noch 23 Prozent der Infektionen einer Quelle zugeordnet werden. Erschwerend kam dazu, dass das Epidemiologische Melderegister (EMS) immer wieder ausfiel und ein Datenchaos anrichtete. Das System ist für ein derartiges Datenvolumen nicht gerüstet, gab das Gesundheitsministerium zu – unklar bleibt, wie man es verbessern will. Die Opposition kritisierte zuletzt, dass die Regierung "im Blindflug" agiere. Dazu kommt, dass die Länder sehr unterschiedlich Maßnahmen setzten – siehe hohe Infektionszahlen in Pflegeeinrichtungen einiger Bundesländer.
Ausbauen
PCR-Testungen sind aufwendig, ihre Auswertung zeitintensiv, heißt es. "Das stimmt so nicht", meint Steininger. Vielmehr handle es sich bei den aktuellen Verzögerungen beim Testen und Tracen "um ein Logistikproblem, das in den Griff zu bekommen wäre". Dafür brauche es Anbieter, die Konzepte für preiswertes und rasches Contact Tracing mit weniger Personalaufwand entwickelt haben. Lead Horizon, das Steininger gegründet hat, nutze etwa einen Kit zu Selbstabnahme der Probe, Hunderte Verteilerzentren und Einsammelstellen für Ausgabe und Rücknahme der Tests sowie digitale Lösungen für Dateneingabe, Rückmeldung, EMS-Eintragungen und Kontakteverfolgung.
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