Wie lassen sich unter diesen Umständen die leeren Batterien aufladen?
Unsere momentan größte Ressource ist eine soziale. Videotelefonie und digitale Medien helfen dabei, soziale Rituale und Kommunikation beizubehalten. Luft nach oben gibt es beim alltäglichen sozialen Gebärden in der Öffentlichkeit: Wir können uns trotz Maske mit den Augen zulächeln, uns bewusst wohlwollende Blicke schenken. Das stärkt das Gemeinschaftsgefühl, das wir gerade so sehr brauchen. Abgesehen davon empfehle ich jedem, sich die Zeit im Lockdown so angenehm wie möglich zu machen – die Arbeit im Homeoffice gut zu strukturieren, die Freizeit bewusst zu genießen, sportliche Hobbys auszuüben, Ausdruck für Gefühle zu finden – beim Malen, Singen, Tanzen, Kochen, Garteln oder Handwerken.
Die Ausgangsbeschränkungen haben mit der nächtlichen Sperre im Vergleich zum März mehr Kontur bekommen. Sind klare Regeln in Krisenzeiten besser als Grauzonen?
Ja, absolut. Je eher Menschen die Zukunft greifen können, desto besser. Sonst droht noch mehr Verunsicherung in einer ohnehin brüchigen Zeit.
Dennoch wird gerade tief in die in die persönliche Freiheit eingegriffen.
Das stimmt. Allerdings haben die meisten inzwischen verstanden, dass wir uns in einem kollektiven Ausnahmezustand befinden. Und ich glaube, dass die Maßnahmen erwartet wurden, weil es darum geht, gesellschaftliche Strukturen dringlichst aufrechtzuerhalten. Verstehbarkeit erhöht Akzeptanz.
Ist der Verzicht auf individueller Ebene ungemein schwieriger, wenn es um ein gemeinschaftliches Ziel geht?
Das Problem ist, dass wir lange vor Corona in einer superindividualisierten Welt gelebt haben, die nicht die Besonderheit der Gruppe, sondern die des Einzelnen erstrebenswert macht. Evolutionsbiologisch ist der Mensch aber ein Herdentier. Bei unseren Vorfahren hatte der, der ausgeschlossen wurde, das Problem. In diesem Sinne könnte uns die unkontrollierbare Krise langfristig guttun und auf eine neue Art verbinden.
Können Erfahrungswerte aus dem März entlastend sein?
Ja. Es gibt es Menschen, die durch Krisen wachsen, Belastungen besser wegstecken und emotional widerstandsfähiger werden. Und dann gibt es Menschen, die dadurch aus der Bahn geworfen werden. Das ist kein Grund, sich zu schämen, aber es kann ein Anlass sein, sich Hilfe zu holen. Wer sich hilflos fühlt, ist gut beraten, selbst hilfreich zu sein. Indem man nett zu anderen ist, tut man sich auch selbst Gutes.
Wie kann man sich auf Distanz Nähe schenken?
In Anbetracht der nahenden Weihnachtszeit fände ich es eine schöne Gelegenheit, sich wieder auf entschleunigendere Varianten der Kommunikation zu besinnen. Kommunikation muss nicht immer schnell und kurzlebig sein. Man könnte die kommenden Wochen dazu nutzen, selbst gebastelte Vorweihnachtspost vorzubereiten, einen Adventkalender zu befüllen oder Menschen per Post kleine Aufmerksamkeiten zukommen zu lassen.
Woran merkt man, dass aus dem Stimmungstief eine Krise geworden ist?
Es gibt einen Unterschied zwischen schlechten Tagen, die jeder mal hat, und einer Depression. Letztere äußert sich durch den Verlust der Lebensenergie, der Motivation, des Appetits, aber auch Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Abgeschlagenheit. Dieses intensive Gefühlserleben dauert über Wochen an, hinzukommen derzeit oft Zukunfts- oder Existenzängste sowie Zwangssymptome, die das alltägliche Leben stark einschränken können.
Mit dem derzeitigen Lockdown wird es womöglich nicht getan sein. Werden wir auch damit fertig?
Sicher sogar. Wir dürfen uns den Blick in die Zukunft ruhig trauen. Irgendwann werden wir zurückblicken und von Corona erzählen können. Die Pandemie lehrt uns aber auch, dass sich die Natur uns nicht unterordnen wird – vielleicht kann uns das ein Stück weit ehrfürchtiger machen.
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