100 Jahre alt werden: Wie wichtig ist der Lebenstil?
Den US-Genetiker und Langlebigkeitsforscher Nir Barzilai vom Albert Einstein College of Medicine in New York beschäftigt diese Frage schon sehr lange: Sein Interesse weckten besonders Familien mit mehreren Hundertjährigen, wie etwa die 2011 verstorbene US-Modeexpertin und Talkshow-Pionierin Helen Reichert und ihre drei Geschwister. Sie alle wurden älter als 100 Jahre, Helen Reichert wurde 109. Doch was so gar nicht zu ihrem Alter passte, war ihr Lebensstil: Sie hasste Gemüse und Salate, liebte Hamburger, deren Fleisch innen roh war, und Schokolade und rauchte 80 Jahre lang. Genetiker Barzilai erinnerte sich in der New York Times (NYT) an ein Gespräch mit ihr rund zehn Jahre vor ihrem Tod: In diesem erzählte ihm Reichert, dass Ärzte ihr wiederholt geraten hätten, mit dem Rauchen aufzuhören. Doch alle diese Ärzte seien mittlerweile gestorben, sie aber nicht.
Spricht das also gegen einen gesunden Lebensstil - zumal es unzählige solcher Geschichten von Menschen gibt, die sich wenig bewegen, ungesund ernähren, rauchen und nicht zu wenig Alkohol trinken, und die trotzdem 100 Jahre und älter geworden sind?
Nein, lautet die Antwort der Genetikerin Sofiya Milman vom Albert Einstein College of Medicine in der NYT: "Es gibt eindeutige Beweise dafür, dass ein gesunder Lebensstil in der Allgemeinbevölkerung die Lebensspanne verlängert" - beziehungsweise ein Ignorieren diverser Empfehlungen das Leben verkürzt. Aber wie erklärt sich dann der scheinbare Widerspruch, dass so viele Centenarians einem eher gegenteiligen Lebenswandel frönten?
Die Antwort darauf: Es hängt davon ab, welches Alter man zu erreichen hofft.
Langes Leben: Die Bedeutung von acht Faktoren
So ergab eine Studie mit mehr als 276.000 US-Veteraninnen und Veteranen im Vorjahr, dass acht gesunde Verhaltensweisen das Leben um bis zu 24 Jahre verlängern können. Dazu gehören eine gesunde Ernährung, regelmäßige körperliche Betätigung, ausreichend Schlaf, Stressbewältigung, gute Beziehungen, Verzicht aufs Rauchen, kein Medikamentenmissbrauch (Opioide) und kein übermäßiger Alkoholkonsum.
Doch die Autorinnen und Autoren dieser Studie kamen auch zu dem Schluss: Beherzigten die Veteranen alle acht Verhaltensweisen, konnten sie zwar ein Durchschnittsalter von zirka 87 Jahren erreichen - immerhin fast zehn Jahre mehr als die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA. Die Daten zeigten aber auch: "Selbst wenn man alles richtig macht, kann man nicht erwarten, 100 Jahre alt zu werden", so Genetikerin Milman.
Was bei vielen Hundertjährigen anders ist
Generell geht die Wissenschaft davon aus, dass die Lebenserwartung zu etwa 25 Prozent von den Genen und zu 75 Prozent vom Lebensstil sowie den sozialen und den Umweltfaktoren abhängt. Aber je mehr man sich dem magischen Alter von 100 Jahren annähert, umso eher scheinen sich diese Prozentsätze umzukehren - und scheint der Einfluss spezieller genetischer Varianten zu dominieren, die das Risiko für häufige Altersleiden wie Herzkrankheiten, Krebs oder Demenz deutlich senken.
Denn viele Menschen mit einem außergewöhnlich langen Leben haben keine gesünderen Lebensgewohnheiten als die Durchschnittsbevölkerung - teilweise sogar deutlich schlechtere. Dennoch leben sie länger.
So konnten US-Forscher zeigen, dass in Familien mit Hundertjährigen eine Genvariante häufiger ist, die das Alzheimer-Risiko senkt. Genetiker Barzilai identifizierte in der Familie von Helen Reichert und auch anderen Familien eine weitere Genvariante, die den Wert des "guten" HDL-Cholesterins um das Zwei- bis Dreifache gegenüber dem Durchschnittswert erhöht.
Und spezielle Varianten im FOXO3-Gen scheinen ganz generell den Alterungsprozess positiv zu beeinflussen und die Zellalterung zu bremsen.
Viele dieser genetischen Varianten sind allerdings sehr selten - und es ist auch niemals ein Gen, das vor altersbedingten Krankheiten schützt, sondern eine Kombination von vielen individuellen genetischen Merkmalen.
Die richtigen Gene zu haben, die sich auf die Langlebigkeit auswirken, ist "wie ein Lottogewinn", sagt der Mediziner Thomas Perls von der Boston University. Aber auch wenn die eigene Mutter 100 Jahre alt geworden ist, sollte man einen gesunden Lebensstil pflegen - eben für den Fall, dass man selbst den genetischen Jackpot nicht geknackt hat.
Und einen wichtigen Rat hat Genetiker Barzilai: "Nehmen Sie keine Gesundheitsratschläge von Hundertjährigen an." Den für diese habe der Lebensstil wahrscheinlich keine allzu große Bedeutung. "Für alle anderen allerdings schon."
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