Krebstherapie: Mediziner sehen Spitzenplatz in Gefahr
Die Strahlentherapeutin Annemarie Schratter-Sehn erinnert sich genau: "Vor drei Jahren kam eine 35-jährige Frau nach der Geburt ihres Kindes in unser Spital: Sie hatte eine riesige Metastase in der Hüfte. Ich sollte sie bestrahlen – es bestand die Gefahr, dass sonst die Hüfte bricht und die Frau nicht mehr gehen kann." Das konnte verhindert werden – und die Mutter hatte das Glück, dass ihr Ausgangstumor in der Lunge auf eine moderne Immuntherapie ansprach: Dank dieser und guter Zusammenarbeit der verschiedenen ärztlichen Berufsgruppen lebt die Mutter heute beschwerdefrei.
Aber Schratter-Sehn kennt auch die andere Seite: Patienten aus dem Ausland, die dort keinen Zugang zu modernen Therapien haben: "Wir müssen daran arbeiten, dass es bei uns nicht so weit kommt." – "In den vergangenen zehn Jahren gab es in der Krebstherapie unglaubliche Erfolge", sagte Wolfgang Hilbe, Präsident der Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie, im Namen von sieben Fachgesellschaften, am Donnerstag in Wien. Etwa auch jene der Pathologen, der Strahlentherapeuten oder der Urologen. "Wir können in Österreich die Bevölkerung derzeit noch sehr gut versorgen. Aber wir sehen graue Wolken auf uns zukommen."
50 Prozent Anstieg
Denn bis 2030 werde sich die Zahl der Menschen mit einer Krebserkrankung um 40 bis 50 Prozent erhöhen: Einerseits durch die höhere Lebenserwartung – "und im höheren Alter treten vermehrt Krebserkrankungen auf", sagt Sigurd Lax, Gesellschaft für Klinische Pathologie und Molekularpathologie. Und dank verbesserter Diagnostik und innovativer Therapien steigt auch die Zahl jener, die geheilt werden oder bei denen die Erkrankung zumindest langfristig beherrschbar wird. "Aus diesem Grund muss auch das Leistungsangebot in den Krankenhäusern bis 2030 verdoppelt werden."
Die Mediziner sind aber auch mit einer Explosion des Wissens konfrontiert. Jedes Jahr steigt die Anzahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen weltweit um rund acht bis neun Prozent. "100 neue Medikamente sind in den letzten fünf Jahren in die Zulassung gebracht worden", erklärte Hilbe: "Und rund 2000 Substanzen werden derzeit klinisch getestet."
Während die Anforderungen steigen, sieht es um den Nachwuchs bei Krebsspezialisten schlecht aus: "Nur sechs von zehn Ärzten bleiben nach dem Studium in Österreich", sagte Christian Schauer (Arbeitsgemeinschaft für Gynäkologische Onkologie). "Und in die Onkologie finden wegen der harten Arbeit und der großen Belastung nur wenige."
"Es war in Österreich immer ein soziales Privileg, dass wir jedem, der Hilfe gebraucht hat, ohne zeitliche Verzögerung eine hohe Qualität der Versorgung anbieten konnten. Aber mittlerweile denke ich schon auch daran, wie das wird, wenn ich in zehn Jahren selbst Patient wäre: Gibt es dann noch spezialisierte Onkologen, Strahlentherapeuten, Pathologen?"
"Patienten in Studien leben länger"
Längst sprechen Krebsspezialisten nicht mehr nur von "Lungenkrebs" oder "Brustkrebs". – "Alleine beim Lungenkrebs gibt es heute rund 20 verschiedene Diagnosen", sagt Krebsspezialist Wolfgang Hilbe. "Und die Onkologie wird immer weniger giftig. Wo es möglich ist, geht man weg von der Chemotherapie hin zu speziellen Behandlungen, vielfach Tablettentherapien." Und er erinnert sich: "Wie ich in der Medizin begonnen habe, war die Chronisch Myeloische Leukämie (eine spezielle Blutkrebsform, Anm.) eine tödliche Krankheit. Heute haben Patienten mit nur einer Tablette am Tag eine fast ganz normale Lebenserwartung."
Damit die positive Entwicklung weitergeht, fordern die Fachgesellschaften in einer "Agenda Krebs 2030" u. a. eine Nachwuchs- sowie eine Aus- und Fortbildungsinitiative, die Entlastung der Ärztinnen und Ärzte durch Dokumentationsassistenten sowie digitalisierte Abläufe, damit mehr Zeit für Lehre und Forschung bleibt. Hier brauche es auch ein Bekenntnis zu klinischen Studien mit neuen Therapien. "Patienten, die an Studien teilnehmen, leben länger", betont Gynäkologe Schauer: "Das darf nicht in den Hintergrund geraten."
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