Vor Achtelfinale: "Österreich hat die mentale Stärke für den EM-Titel"
Der Wiener Sportpsychologe Georg Hafner hat schon zahlreiche Hobby- und Profisportler betreut: Motivation oder der Umgang mit Druck, Fehlern und Rückschlägen sind dabei wiederkehrende Themen.
KURIER: Wenn ich Sie um eine sportpsychologische Ferndiagnose bitten dürfte: Hat das ÖFB-Team die mentale Stärke, Fußball-Europameister zu werden?
Georg Hafner: Trainer Ralf Rangnick hat in der "ZiB 2" gesagt: "Wir können jeden Gegner schlagen." Damit vermittelt er die Einstellung: "Für uns gibt es keine Grenzen nach oben." Das ist nicht vermessen oder angeberisch, sondern das ist mental gesehen die richtige Einstellung. Nach dem Motto: Ich als Trainer und wir als Mannschaft, wir sind selbstbewusst - wir sind uns selbst bewusst, wo unsere Stärken liegen und was wir leisten können, egal gegen welchen Gegner, egal in welchem Spiel und unter welchem Druck.
Es ist nicht dieses kleinlich-ängstliche Denken "Na ja, vielleicht schaffen wir das Achtelfinale, aber danach ist wohl Schluss". Stattdessen gibt es trotz des großen Drucks eine gewisse Lockerheit, die auf dieser Haltung basiert und auch in den Interviews der Spieler und des Trainers zu merken ist. Also ja, Österreich hat auf jeden Fall die mentale Stärke für den EM-Pokal.
Aber wie gelingt es, dann auch in einem so wichtigen Spiel wie einem Achtelfinale fokussiert zu bleiben?
Dafür gibt es verschiedene Methoden. Eine ist die Visualisierung. Ich setze mich vor einem Turnier bzw. einem Spiel gedanklich in diese Situation hinein: Das volle Stadion, der gegnerische Fan-Sektor, die gegnerische Mannschaft. Und das gehe ich dann im Geiste immer wieder durch. Visualisieren heißt aber nicht nur, sich die Abläufe einzelner Situationen einzuprägen. Es heißt auch, auf Emotionen, die aufkommen können, vorbereitet zu sein. Natürlich ist es besser, sie rauszulassen als hinunterzuschlucken. Aber sie dürfen mich nicht daran hindern, unmittelbar danach das Spiel fokussiert fortzusetzen. Leistung am Punkt - das ist entscheidend.
Und dann passiert zum Beispiel ein Eigentor.
Zu einem Eigentor kommt es aus der Spieldynamik heraus, als Folge einer unkontrollierten Drucksituation. Mentale Stärke heißt hier: Als Einzelner und als Mannschaft sind wir auf diese Situation vorbereitet, haben auch sie im Vorfeld wieder und wieder durchgespielt: Denke ich dann, "um Gottes Willen, was habe ich nur der Mannschaft und den Fans angetan?" Oder kann ich sofort geistig umschalten und weiterspielen, als wäre nichts passiert? Das gilt auch für die ganze Mannschaft: Die hält in so einer Situation zusammen und ist sofort wieder auf den weiteren Spielverlauf fokussiert. Beim ÖFB-Team ist das derzeit so der Fall.
Wie kann man bei einem so wichtigen Spiel etwa als Freistoß- oder Elfmeterschütze den Fokus halten?
Gute Spieler haben sowohl Standardsituationen als auch dynamische Spielabläufe geistig verinnerlicht. So ähnlich wie die Skifahrer, die vor dem Start den Kopf hin- und herbewegen, weil sie in Gedanken nochmals die Strecke durchgehen. Manche Spieler sagen, in den Sekunden vor ihrem Elfmeterschuss hören sie gar nichts. Es gibt nur den Schützen, den Ball, den Tormann und das Tor. Es gibt nur das Hier und Jetzt. Wenn der Spieler jetzt denken würde, was passiert, wenn er verschießt, dann wäre er nicht mehr am Punkt. Aber das muss er sein.
Nervosität, Druck und Angst vor dem Versagen lassen sich wohl auch mit bestem mentalen Training nicht verhindern?
Darum geht es auch nicht. Nervosität oder auch Angst vor dem Versagen bedeuten immer auch zusätzliche Energie - und die hilft mir, meinen Fokus auf mein Ziel zu halten. Es wäre ja auch komisch, in so einem Spiel gar keine Nervosität zu verspüren. Aber sie kann mich wachsamer machen und mir letztlich helfen, mich auf das Spiel zu konzentrieren.
Ist die mentale Fitness eigentlich genauso wichtig wie die körperliche?
Es gibt ja diesen Spruch "Spiele werden im Kopf entschieden". Das finde ich heute ein wenig verkürzt, es spielen sehr viele Komponenten eine Rolle, unterschiedlichste Trainingsformen, die taktische Ausrichtung, die Physiotherapie, die Ernährung, aber eben auch die mentale Komponente. Und natürlich der Trainer sowie das gesamte Betreuungsteam inklusive Mentaltrainer, das am Punkt ist und Hervorragendes für die österreichische Mannschaft leistet.
Aber die mentale Komponente ist auf jeden Fall ein relevanter Baustein auf dem Weg zum Erfolg. Die Spieler selber sprechen von der Energie, die spürbar ist, und von der Intensität, mit der sie spielen können - dank ihrer körperlichen und ihrer mentalen Fitness. Beides gehört zusammen und verstärkt sich gegenseitig.
Bereits bei den Vorbereitungsspielen Anfang Juni war die Stimmung im Nationalteam sehr gut und gelöst. Das ist wohl auch wichtig, um weit kommen zu können?
Natürlich, und sehr viel hängt hier am Trainer. Die Spieler betonten immer wieder die Freiheiten, die sie haben und das Vertrauen, das ihnen entgegengebracht wird. Ralf Rangnick hat offenbar auch ein unglaublich gutes Gespür, wie er auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Spielers eingehen und sie auch mental stärken und aufbauen kann. Und es ist auch eine hohe Kunst eines Trainers, einen Rahmen zu schaffen, in dem man den anderen bei gemütlichen Aktivitäten auch von seiner Persönlichkeit her näher kennenlernen kann - sei es bei einer Golfrunde, beim Tischfußball oder auch nur beim gemütlichen Beisammensitzen. Je besser ich weiß, wie die anderen ticken, desto mehr werde ich ihnen vertrauen und mich auf sie verlassen. Und auf diese Weise entsteht ein perfektes Zusammenspiel auf dem Platz.
Und welche Rolle spielen die Fans?
Diese Energie, die von den eigenen Fans ausgeht, kann eine Mannschaft zusätzlich beflügeln und dazu motivieren, auch in der 85. Minute Vollgas zu geben. Ein mental starkes Publikum motiviert sein Team auch bei einem Rückstand mit voller Kraft. Es ist ein Booster für die Mentalkraft des Teams.
Kommentare