Erstes Superfood: Warum Forscherinnen Muttermilch im Labor nachbauen
Muttermilch ist nicht einfach nur Milch: "Sie enthält alles, was das menschliche Baby für eine optimale Entwicklung benötigt", weiß Gudrun Böhm, Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Linz.
Fein kalibriert
Mit fast 90 Prozent macht Wasser den größten Anteil an der Säuglingsnahrung aus, die Power schlummert in den übrigen zehn Prozent. "Neben hochwertigem Protein, Milchzucker und Fetten ist Muttermilch vollgepackt mit Mineralstoffen, Vitaminen, Antikörpern und sogar lebenden Zellen für die Infektabwehr", erklärt Böhm, die auch Vizepräsidentin des Verbandes der Still- und Laktationsberater und -beraterinnen Österreichs ist.
Seit Jahren versuchen Forscherinnen und Forscher, die Lücke zwischen künstlicher Ersatzmilch und Muttermilch zu schließen. Ein US-amerikanisches Start-up prescht nun mit einer Innovation vor: Biomilq will Muttermilch im Labor herstellen.
Erste Erfolge gibt es schon: So verkündeten die beiden Gründerinnen, Lebensmittelwissenschafterin Leila Strickland und Zellbiologin Michelle Egger, kürzlich, dass es ihnen gelungen sei, Brustzellen zu züchten, mit denen zwei der wichtigsten Bestandteile nachgebildet werden können: ein Protein namens Kasein und einen Zucker namens Laktose.
Alternativen schaffen
Böhm sieht die Bemühungen der US-Amerikanerinnen positiv: "Es ist nicht jedem bewusst, aber jede derzeit verfügbare künstliche Säuglingsnahrung wird aus Kuhmilch gewonnen und man führt artfremdes Eiweiß zu. Ich bezweifle aber, dass Kunstmilch jemals an die Milch der Mutter herankommen wird."
Die US-amerikanische Evolutionsbiologin Katie Hinde von der Arizona State University beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit Muttermilch. In Studien bei Menschen, Affen und Kühen konnte sie zeigen, dass Muttermilch sich je nach Geschlecht des Babys sowohl in der Quantität wie auch in ihrer Qualität unterscheidet. Bei Jungen ist die Muttermilch reicher an Fett und Proteinen – und damit an Energie. Mädchen bekommen dafür mehr Milch.
Die weibliche Brust reagiert mit ihren Drüsen auch auf Umweltbedingungen und Keime in der Umgebung des Säuglings. "Beginnt das Kleinkind, die Natur auf allen vieren zu erkunden, liefert sie Abwehrstoffe gegen Keime in der Erde, die es sich in den Mund steckt", sagt Böhm. Später beugt sie Allergien und Asthma vor. Gestillte Kinder werden auch auf den kultureigenen Familientisch vorbereitet: "Muttermilch schmeckt täglich anders, abhängig davon, was die Frau isst." Muttermilch ist auch Eisenlieferant: Sie enthält zwar wenig, liefert das Spurenelement aber mit den nötigen Stoffen, die eine perfekte Aufnahme im kindlichen Darm ermöglichen.
Frauen bestärken
Trotz der komplexen Struktur wollen Strickland und Egger weiter an Säuglingsnahrung basteln, die Muttermilch "ernährungsphysiologisch" gleichkommt. Damit gehen sie ein soziokulturelles Problem an. Immer noch fühlen sich viele Frauen unter Druck gesetzt, ihr Kind nach der Geburt zu stillen. Können sie das nicht, etwa weil die Milch nicht einschießt oder sie rasch zurück an ihren Arbeitsplatz müssen, löst das Schuldgefühle aus. Soziale Medien verschärfen das Problem. Bilder von Mamas, die ihr Baby zufrieden zur Brust nehmen, wecken den Eindruck, Stillen sei ein Kinderspiel. Tatsächlich entwickelt rund ein Fünftel in der Stillzeit eine schmerzhafte Brustentzündung.
Wichtig sei laut Böhm, dass Frauen nach der Geburt kompetent und einfühlsam beraten und in ihrer individuellen Entscheidung bestärkt werden. "Dann stillen sie häufiger und haben, falls es nicht klappen sollte, auch weniger schlechtes Gewissen, weil sie alles versucht haben."
6 Monate lang sollten Neugeborene – wenn möglich – ausschließlich gestillt werden laut Empfehlung der WHO.
Bei Säuglingen, die sechs Monate nur gestillt wurden, konnte in Studien eine bessere motorische Entwicklung beobachtet werden.
200 verschiedene Zuckermoleküle sind in menschlicher Muttermilch enthalten. Das macht sie zur komplexesten Babynahrung aller Säugetiere.
450 Milliliter Milch bildet jede Brust im Durchschnitt täglich in den ersten Wochen nach der Geburt.
Momentan ist Milchpulver, als Nachahmung der Muttermilch nach wie vor die praktischste Alternative. "Das Pulver wird mit frischem Wasser zubereitet und ermöglicht ein gesundes Großwerden", sagt Böhm. "Eine andere Situation findet man in Regionen, wo es kein unbedenkliches Wasser gibt. Hier sind Säuglinge, die nicht gestillt werden, gefährdet."
Die Milch fürs eigene Baby kann auch aus einer anderen Brust kommen: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt Frauenmilch aus Milchbanken sogar noch vor künstlicher Säuglingsnahrung. Das Wiener Krankenhaus Nord beherbergt die älteste Humanmilchbank der Welt. Zuvor war diese in der Semmelweis-Klinik angesiedelt. Auch andere Krankenhäuser nehmen Spendermilch an, "vor allem, um Frühchen zu versorgen".
Heute weiß man aus Studien außerdem: Die Milchdrüsen von Frauen produzieren mit jeder Schwangerschaft mehr Milch. Ein Lichtblick für Mütter, die beim ersten Kind mit dem Milchfluss zu kämpfen hatten. Zwar können weder Biomilq noch Milchpulver oder Milchbanken einen perfekt abgestimmten Ersatz für Muttermilch liefern. Doch sie können Neo-Mamas allemal entlasten.
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