Steigt die Dunkelziffer der nicht entdeckten Corona-Infektionen?
Seit einer Woche gehen die gemeldeten Infektionszahlen und die Inzidenzen leicht zurück. Wie hoch derzeit das Infektionsgeschehen tatsächlich ist, lässt sich aber nicht eindeutig sagen – allerdings gibt es Anzeichen, dass die Dunkelziffer steigt. Die wichtigsten Fakten dazu.
„Wir sind bisher in unseren Modellen davon ausgegangen, dass auf einen entdeckten Infizierten ein nicht Entdeckter kommt“, sagt der Modellierer Niki Popper. „In der derzeitigen Situation steigt die Dunkelziffer aber mit Sicherheit an.“
Das zeige sich unter anderem daran, dass das Infektionssignal – die Zahl der erfassten täglichen Neuinfektionen – relativ gleichbleibend ist, es aber einen relativ starken Anstieg der Spitalsaufnahmen gibt. Popper: „Man muss drei Faktoren herausrechnen bzw. berücksichtigen: Den Zeitverzug zwischen Infektion und Spitalsaufnahme; mögliche Veränderungen in der Schwere der Krankheitsverläufe – was derzeit nicht der Fall ist – und starke Änderungen beim Anteil an Patienten, die wegen anderer Erkrankungen im Spital und gleichzeitig Corona-positiv sind – aber der ist bereits seit längerem relativ hoch. Da wir also alle drei Faktoren ausschließen können, können wir aufgrund es Auseinandergehens von Spitalsaufnahmen und Infektionszahlen feststellen, dass offenbar weniger Infizierte getestet werden.“
Popper geht davon aus, dass mit dem Rückkehr der Urlauber und dem Wegfall des positiven Saisonalitäts-Effekts auch die Inzidenzen wieder steigen würden, "wenn wir dann noch testen und das messen - aber in diesem Fall würden wir einen Anstieg sehen."
Angesichts der Aufhebung der Quarantäne müsse man sich jetzt anhand des gestern, Dienstag, präsentierten Variantenmanagement-Plans überlegen, wie man die weitere Entwicklung überwacht - und wie man die vulnerablen Gruppen schützt.
Für die Überwachung seien sowohl Daten der Spitalspatienten aus dem Hospitalisierungsregister als auch Daten zu den symptomatischen Patientinnen und Patienten aus dem niedergelassenen Bereich notwendig. "Hinzu kommen die Abwasseranalyse und die Analyse neuer Virusvarianten. Diese vier Säulen werden auch vom Europäischen Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten, ECDC, empfohlen." Als fünfte Säule plädiert Popper noch für eine monatliche Stichprobe auf eine Infektion in einer Bevölkerungsgruppe, um zu sehen, wie sich die Ausbreitungsdynamik verändert.
"Und dann stellt sich je nach Intensität des Infektionsgeschehens jeweils die Frage, mit welchen Maßnahmen schützt man die vulnerablen Gruppen und wie unterstützt man sie am besten", betont Popper: "Denn wenn ich auf der einen Seite die Quarantäne aufhebe, muss ich auf der anderen Seite die Unterstützung von Risikogruppen ausbauen."
"Infektionen deutlich höher als ausgewiesen"
„Die Infektionszahlen sind deutlich höher als derzeit ausgewiesen“, sagt auch der Statistiker Erich Neuwirth. "Aber um wieviel höher, das traue ich mich nicht zu sagen."
Neuwirth begründet seine Zurückhaltung auch: "Wien testet rund zehn Mal so viel wie Kärnten, aber die Inzidenz ist in Wien nur doppelt so hoch. Das ist also so deutlich unterschiedlich, dass ich mir schwer tue, daraus eine Gesetzmäßigkeit abzuleiten."
Dass es aber eine hohe Dunkelziffer gibt, zeigen auch die hohen Prozentsätze der positiven Tests – also der Anteil von positiven Testergebnissen an allen durchgeführten Tests: „Je höher dieser Anteil ist, umso mehr unentdeckte Fälle wird es geben“, sagt Neuwirth, der auf Twitter Positivitäts- und Testraten miteinander verglichen hat: „Oberösterreich hat mit einem Anteil positiver Tests von 47 Prozent gleichzeitig dem geringsten Prozentsatz an getesteter Bevölkerung (0,23 %), Wien mit einer Positivitätsrate von 7,2 Prozent den höchsten getesteten Bevölkerungsanteil (2,53%)."
Eine Auskunft über die Dunkelziffer könnte eine Studie liefern, bei der von zumindest 2.000 Personen einerseits der Immunstatus (Schutz durch Infektion und / oder Impfungen) ermittelt wird, andererseits auch ein PCR-Test abgenommen wird. "Und es braucht Daten über die Verweildauer der Patientinnen und Patienten in den Spitälern. Denn die reinen Belagszahlen sagen uns nicht, wie viele Menschen bisher insgesamt im Spital behandelt wurden: Liegen weniger Menschen länger im Spital oder mehr Menschen kürzer?"
Neuwirth ist aber auch zuversichtlich: "Erfreulicherweise sinken seit einer Woche die Inzidenzen." Da die Testzahlen in den vergangenen acht Wochen weitgehend unverändert blieben, dürfte es sich tatsächlich um eine leicht sinkende Tendenz handeln: "Die Daten geben Anlass zur Hoffnung, es könnte sich aber natürlich auch um ein temporäres Phänomen handeln. Es ist noch ein Beleg dafür, dass wir den Gipfel für die nächste Zeit überstanden haben."
Und: "Ein Problem ist natürlich auch, dass wir von einem wesentlich höheren Niveau an Infektionen und Spitalsbelegungen aus in den Herbst starten als dies in den vergangenen zwei Jahren der Fall war", betont Neuwirth.
"Hohes Niveau im Abwasser"
„Was den Nachweis von Virus-RNA im Abwasser betrifft, bewegen wir uns derzeit auf einem sehr hohen Niveau“, sagt Rudolf Markt (Uni Innsbruck) vom SARS-CoV-2 Abwassermonitoring Österreich. „Dieses Niveau ist durchaus mit der Delta-Welle vergleichbar, oder sogar noch etwas höher.“
Insgesamt werde der Pandemieverlauf derzeit durch das Abwasser deutlich besser dargestellt als durch die Individualtestung: „Wobei es hier auch regionale Unterschiede gibt – sowohl bei der Virusaktivität als auch der Erfassung dieser Aktivität.“
Die Virusaktivität nehme in Wien weiter zu, in den anderen Bundesländern zeige sich eine Seitwärtsbewegung bzw. sogar eine leichte Abwärtsbewegung.
Insgesamt sei aber die Teststrategie schlechter geworden im Vergleich zu früheren Perioden der Pandemie: "Die derzeitige Teststrategie ist sicher nicht optimal, weil sie die im Abwasser beobachtete Entwicklung nicht mehr überall widerspiegelt."
Auch Virologe hält Dunkelziffer für hoch
"Ich glaube, dass die Dunkelziffer hoch ist", sagt auch der Virologe Lukas Weseslindtner von der MedUni Wien. "Die Krankenhausauslastung hat sich erhöht in den letzten Tagen und es gibt viele Infektionen bei Menschen, die dreimal geimpft waren. Dafür, dass es Sommer ist und so heiß, haben wir eigentlich eine angespannte Situation.In der allgemeinen Bevölkerung ist die Konzentration von neutralisierenden Antikörpern nicht ausreichend hoch, um Infektionen zu verhindern. Viele haben nicht mehr genug Antikörper in den Schleimhäuten."
Weseslindtner ist auch bezüglich asymptomatischer Verläufe skeptisch. "Studien zeigen, dass das eine Rarität ist. Oft geben Menschen mit mildem Verlauf an, dass sie sich an keine Symptome erinnern können – das heißt nicht, dass sie keine gehabt haben. Ein Mensch, der wirklich fit ist und eine Infektion gar nicht merkt, ist selten. Auch wer milde Symptome oder keine Symptome hat, ist infektiös. Zudem: Wenn ich heute asymptomatisch bin, kann ich morgen Fieber bekommen. Ob ich ansteckend bin, ist unabhängig von Symptomen", betont der Virologe.
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