Fast 6.000 Neuinfektionen: "Lockdown ist definitiv nicht auszuschließen"
Von einem "beunruhigend großen Zuwachs" bei den Infektionszahlen spricht der Statistiker Erich Neuwirth. "Seit 14 Tagen geht es kontinuierlich bergauf, das Plateau haben wir längst verlassen." Als exponentiell würde er den Zuwachs noch nicht bezeichnen; "da sind 14 Tage zu wenig, um das sauber sagen zu können".
Dazu müssten sich die Zahlen in der gleichen Zeiteinheit (z.B. eine Woche) immer um den gleichen Faktor vervielfachen: "Dafür schwankt der Prozentsatz des Zuwachses noch zu stark. Das lässt auch noch ein Quäntchen Hoffnung zu."
In den vergangenen 14 Tagen habe sich die österreichweite Inzidenz von 160 auf 320 verdoppelt. Derzeit sehe er keine Änderung des ansteigenden Trends, "man muss aber auch dazu sagen, dass Knickpunkte in den Kurven nie verlässlich vorhersagbar waren".
Ob er es für möglich hält, dass im äußersten Fall sogar ein Lockdown für alle notwendig wird? Neuwirth: "Das ist eine heikle Frage. Ich glaube, dass man es derzeit noch nicht wirklich absehen kann, aber es ist aus meiner Sicht definitiv nicht auszuschließen. Wenn es eine Woche lang weiter so stark bergauf geht, dann muss man aber ernsthaft daran denken."
Er könne sich nicht vorstellen, wie das exekutiert werden solle, dass er nur für Ungeimpfte gelte: "Wie soll man das kontrollieren?"
Neuwirth betont, dass die Inzidenz "immer noch ein Frühwarnsystem" ist. Der tägliche Anstieg bei der Belegung der Spitalsbetten scheine jetzt mit der üblichen Zeitverzögerung stärker anzusteigen.
"Und man sieht ganz deutlich, dass in den Bezirken mit höherer Impfquote die Inzidenz geringer ist."
Die Daten würden eindeutig zeigen, dass "die Impfung zwar kein Totalschutz ist, aber sie bremst alles ein: sowohl die Weitergabe einer Infektion als auch das Erkrankungsrisiko und besonders auch das Risiko schwer zu erkranken", betont Neuwirth.
Ausgeweitete FFP2-Maskenpflicht wirkt
Wien war am Freitag laut EMS-Morgenmeldung das einzige Bundesland mit einer Inzidenz von unter 200, Salzburg und Öberösterreich - "die zwei Sorgenkinder" - sind einer Größenordnung von 475: "Für mich zeigt das, dass eine ausgeweitete FFP2-Maskenpflicht und eine 2-G-Regelung (nur geimpft, genesen, Anm.) für Nachgastronomie und Veranstaltungen über 500 Personensehr wirksam sind. Wien hat mit einer nur durchschnittlichen Impfquote die niedrigste Inzidenz."
Er halte es derzeit generell für sinnvoll, in öffentlichen Innenräumen immer eine FFP2-Maske zu tragen, auch wenn dies aufgrund der 2-G-Regel etwa in Theatern oder Konzerthäusern mit mehr als 500 Besuchern nicht vorgeschrieben ist.
Im Gesundheitsministerium verweist man auf den Stufenplan, wonach ab 600 belegten Intensivbetten (Maßnahmenstufe 5) Ausgangsbeschränkungen für Ungeimpfte vorgesehen sind. Auf Nachfrage, ob ein Lockdown für Geimpfte ausgeschlossen werden könne, hieß es, dass die Maßnahmen klar kommuniziert seien.
Ziel der Stufen sei es, gar nicht so weit zu kommen: "Das Ziel der Maßnahmen ist ja, ohne Schließungen durchzukommen." Und zur Kontrolle: "Vor einem halben Jahr hieß es auch, man könne 3-G nicht kontrollieren."
Dritte Impfung vorziehen?
Unterdessen ist auch eine Diskussion darüber entfacht, ob die dritte Impfung generell auf sechs Monate nach der zweiten Impfung vorgezogen werden sollte (für die mRNA-Impfstoffe wird sie ja erst nach neun bis zwölf Monaten empfohlen, ausgenommen Menschen über 65-Jahre und solche mit chronischen Erkrankungen): "Ich glaube, das wäre sehr sinnvoll", sagt dazu der klinische Pharmakologe Markus Zeitlinger von der MedUni Wien zum KURIER.
"Das ist auch von der Zulassung her so möglich." Es zeige sich einfach ein Rückgang der Immunität mit fortschreitendem Abstand zur zweiten Impfung: "Man muss - wie bei anderen Impfungen auch - drei Mal mit dem Virus Kontakt gehabt haben. Dieses Schema kennen wir auch von vielen anderen Impfungen."
Damit werde dem Immunsystem offenbar vermittelt, dass es sich um eine permanente Gefahr handle und es sich auszahle, "sich längerfristig darauf einzustellen".
Zeitlinger betont aber, dass nur ein kleinerer Teil des derzeitigen Anstiegs der Neuinfektionen auf Geimpfte zurückgeht. "Momentan werden die Neuinfektionen doch ganz eindeutig von den Ungeimpften angetrieben."
Zahlenmäßig nehmen die Infektionen bei Geimpften zwar zu, ihr Anteil an den Gesamtinfektionen sei in den vergangenen Wochen aber deutlich zurückgegangen, weil die Neuinfektionen bei den Ungeimpften wesentlich stärker gestiegen sind. "Bei den 12- bis 17-Jährigen gibt es bei den Ungeimpften eine Sieben-Tage-Inzidenz von knapp 700, bei den Geimpften liegt sie bei 100."
Ein Impfdurchbruch liegt auch nur vor, wenn bei einer vollständig geimpften Person eine SARS-CoV-2 Infektion mit Symptomen (zum Beispiel Halsschmerzen und Fieber) festgestellt wird. Ein vollständiger Impfschutz besteht bei den allermeisten Impfstoffen (Biontech/Pfizer, Astra Zeneca, Moderna), wenn nach der letzten erforderlichen Impfdosis 14 Tage vergangen sind.
Davon abzugrenzen sind asymptomatische Verläufe unter vollständig Geimpften: Jene Personen werden zwar positiv auf den Erreger getestet, zeigen aber keinerlei Symptome. Diese Fälle gelten nicht als Impfdurchbrüche.
Zeitlinger: "Auch wenn man die Infektionen bei den Geimpften auf Null reduzieren könnte, würden die Neuinfektionen derzeit nach oben schießen."
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