Eine Krise zuviel
Gleichzeitig kommt es gerade zur Überlappung zweier Krisen: der Krieg in der Ukraine und die weiterhin andauernde Corona-Pandemie. Zumindest eines lässt sich dabei positiv anmerken, meint der Experte. Wir seien zwar nach wie vor damit beschäftigt, die Neuartigkeit der Gesundheitsgefährdung und die Veränderung des Alltags zu verdauen, haben die Corona-Situation aber emotional schon relativ gut unter Kontrolle. "Wir sind nicht mehr in permanenter Alarmbereitschaft und erleben die beiden Krisen eher hintereinander als zeitgleich."
Viele Menschen haben bereits Kriege erlebt, wissen, wie sich ein Fliegeralarm anhört und was es heißt, eine Woche im Luftschutzkeller zu sitzen. "Für sie fühlt sich die Situation anders an als für jene, die diese Tage quasi als Unbedarfte erleben", sagt der Experte. Für viele waren ihre persönlichen Kriegserfahrungen sehr traumatisierend, durch die aktuelle Krise werden die Erinnerungen wieder aktiviert und sorgen erneut für psychische Belastung.
Kindgerechte Information
Auch für Kinder ist die Lage in der Ukraine emotional herausfordernd. Binder-Krieglstein hält wenig davon, Kinder die Nachrichten ungefiltert konsumieren zu lassen. Das Wichtigste sei, "immer auf dem emotionalen und kognitiven Level des Kindes zu bleiben", wenn man ihnen erklärt, wie die aktuelle Lage aussieht. Kinder spüren die Verunsicherung und den Stress der Eltern, es ist daher geradezu deren "emotionale Pflicht", den Nachwuchs an den Gefühlen der Eltern teilhaben zu lassen. Ihnen die Geschehnisse komplett vorzuenthalten, wäre der falsche Weg, betont der Psychologe.
Nachrichten kritisch hinterfragen
Dazu ist es ratsam, den eigenen Nachrichtenkonsum im Blick zu haben. Allzu schnell driftet man ins sogenannte "Doomscrolling" ab (zusammengesetzt aus engl. "doom", dt. Verderben, und dem eingedeutschten "Scrollen", Anm.) und kann gar nicht mehr aufhören, sich mit alarmierenden Informationen zu beschäftigen.
Es ist aber nicht die Quantität, die für die psychische Verfassung den Ausschlag gibt, sagt Binder-Krieglstein. "Das Wichtigste ist die Qualität der Information, und dass sie aus seriöser und gesicherter Quelle stammt. Denn mit diesen Informationen bildet man sich das emotionale Fenster, durch das man auf die Situation blickt."
Dieser Blick ist ausschlaggebend dafür, wie man mit der gefühlten Bedrohung umgeht. Beim optimalen Maß der Information ist keine Verallgemeinerung möglich. Die Frage, so Binder-Krieglstein, ist: "Wie viel brauche ich persönlich, um mein Informationsbedürfnis zu stillen?"
Es ist auch wichtig zu ergründen, welche Angst man am bedrohlichsten empfindet, und sich für diese eine Maßnahme zu überlegen, erklärt der Experte. Manchen hilft es, die Vorratskammer mit Dosengulasch zu füllen, um sich sicher zu fühlen. Anderen nimmt es die Angst, Liveticker zu meiden. Sorgt man sich um die Menschen vor Ort, hilft es auch einem selbst, diese nach eigenen Möglichkeiten zu unterstützen. Am Sonntagabend taten dies Tausende Menschen bei einem solidarischen Lichtermeer am Wiener Heldenplatz.
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