Alzheimer-Spezialistin: "Bin sehr zuversichtlich, dass es mehr Therapien geben wird"
Neue Bluttests, mehr Klarheit über Risikofaktoren – und ein von der europäischen Arzneimittelbehörde abgelehntes Medikament: Was in der Alzheimer-Medizin inzwischen gelingt, und woran sie scheitert, weiß Spezialistin Elisabeth Stögmann.
"Für viele Betroffene ist eine Hoffnung verloren gegangen", sagt Elisabeth Stögmann – und meint den wenige Wochen alten Entscheid der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), den gegen Alzheimer wirksamen Arzneistoff Lecanemab nicht zuzulassen (der KURIER berichtete).
Stögmann leitet die Ambulanz für Gedächtnisstörungen und Demenzerkrankungen an der MedUni Wien. "Wir hatten schon Menschen auf einer Warteliste, die für die Behandlung infrage gekommen wären", berichtet Stögmann, auch Präsidentin der Österreichischen Alzheimer Gesellschaft. "Wir mussten sie vertrösten, haben aber fix mit einer Zulassung gerechnet." Es sei eine "große negative Überraschung" gewesen, "dass es nicht so gekommen ist".
Warum Stögmann den EMA-Entschluss für revidierenswert hält und ob man – wie kürzlich im Fachblatt Lancet postuliert – eine Demenz durch Vermeidung bestimmter Risikofaktoren wirklich um die Hälfte senken kann, erklärt sie im Interview.
KURIER: Was kritisieren Sie konkret am EMA-Entscheid? Elisabeth Stögmann: Ich halte ihn für strittig. Das Medikament ist in vielen anderen Ländern, den USA, Japan, Südkorea, seit Kurzem auch in Großbritannien, zugelassen. Die EMA ist da etwas isoliert.
Als Grund wurden potenziell schwere Nebenwirkung angeführt. Das Medikament wird schon vielerorts verabreicht. Und es bliebe uns Ärzten offen, wem wir es anbieten. Die besagten Nebenwirkungen sind mit bestimmten Biomarkern verknüpft, das sind einerseits ein genetischer Marker und andererseits Auffälligkeiten in der Bildgebung mit MRT. Man kann im Vorfeld sehr wohl sagen, wer eher Nebenwirkungen entwickeln wird. Wir hätten in Österreich ohnehin ein konservatives Protokoll begonnen, also Menschen, die ein hohes Risiko für Hirnblutungen und -schwellungen haben, zu Beginn sicher ausgeschlossen. Es ist schade, dass man uns Ärzten diese Verantwortung nicht in die Hand gegeben hat. Wir haben kein Interesse, die von uns lange betreuten Patienten, deren Leidensdruck wir sehen und hören, zu schädigen.
Manche Fachleute meinen, der Effekt sei auch gering … Der klinische Effekt ist, dass es zu einer Verlangsamung der Verschlechterung kommt – und zwar um ca. 30 Prozent. Die Krankheit wird also weniger schnell schlechter. Ich denke, es muss erst ankommen bei den Menschen, was das für neurodegenerative Erkrankungen bedeutet: einen großen Benefit.
Gehen Sie davon aus, dass die EMA ihre Entscheidung revidiert? Ehrlich gesagt: ja. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Europa als einzige Region das Medikament nicht zulässt.
Gibt es andere Hoffnungsträger? Es gibt neben Lecanemab noch Donanemab, ebenfalls ein Amyloid-Antikörper. Hier erwarten wir die Entscheidung über eine Zulassung kommenden Jänner. Die Substanzen verhalten sich ähnlich, also muss man fast davon ausgehen, dass auch Donanemab nicht zugelassen wird. Dann hätten wir in Europa keine moderne Therapie zur Verfügung und es gibt keine andere, die so weit in der Forschung gediehen ist.
Kürzlich wurde in Lancet postuliert, dass fast die Hälfte der Demenzfälle verhindert oder verzögert werden könnten, wenn 14 Risikofaktoren minimiert werden. Ein realistischer Wert? An sich schon. Das sind verlässliche Daten, die über Jahre erhoben wurden. Es geht hier nicht nur um Alzheimer. Viele Demenzen sind durch Durchblutungsstörungen bedingt, oder übermäßigen Alkoholkonsum. Natürlich ist es schwer, zu sagen, wie Risikofaktoren miteinander interagieren. Wie gute Bildung zum Beispiel mit gesunder Ernährung oder kardiovaskulärer Gesundheit zusammenwirken. Die Lancet-Kommission macht sich da aber immer große statistische Mühe und daher sind die Daten durchaus verlässlich.
Zusätzlich zu bekannten Risikofaktoren wurden zwei neue genannt: ein erhöhter LDL-Cholesterinspiegel und Sehverlust. Das sind keine unbekannten Faktoren. Die Kommission hat aber so hohe Anforderungen, dass sie Risikofaktoren erst als solche benennt, wenn sie in vielen Studien als zuverlässig gelten. Alkohol war zum Beispiel lange nicht angeführt, obwohl der Einfluss auf der Hand liegt. Beim Sehverlust geht man schon lange davon aus, dass die geringere Anregung durch die Sehbahn Netzwerke im Gehirn verkümmern lässt, wie es auch bei der Hörminderung der Fall ist.
Welche praktischen Ableitungen lassen sich ziehen? Schon das gesunde Leben. Das klingt banal, aber es ist so, dass Sport, gesunde Ernährung, ein gut behandelter Blutdruck, Normalgewicht, wenig Alkohol und Nichtrauchen einen länger gesund halten.
Immer wieder wird über potente Alzheimer-Bluttests berichtet. Wie greifbar sind sie? In einigen Jahren wird das bei uns kommerziell verfügbar sein, denke ich. Im Moment ist es für Betroffene im Sinne eines gedruckten Befundes noch nicht greifbar. Die Tests können mit einer Treffsicherheit von über 90 Prozent sagen, ob jemand am Weg ist, Alzheimer zu entwickeln. Teils in frühen Stadien. Aber es ist eine komplex zu interpretierende Untersuchung. Derzeit ist angedacht, die Tests im spezialisierten Setting anzubieten. Wir führen solche Testungen zum Beispiel im Rahmen von Studien durch und schauen parallel, welche Diagnose die Patienten wirklich haben. Als singuläres diagnostisches Instrument sind sie im klinischen Alltag noch nicht einsetzbar.
Was weiß man heute gesichert über die Entstehung von Alzheimer? Gesichert ist, dass es zu einem guten Teil eine genetisch bedingte Erkrankung ist und dass das in Kombination mit Lebensstilfaktoren – man geht von einem Verhältnis 60 (Gene) zu 40 (Lebensstil) aus – , die Entstehung fördert. Im alternden Gehirn dürfte es irgendwann zur Verklumpung von fehlgefalteten Eiweißen kommen. Im Laufe der Zeit kommt es durch Prozesse, die wir nicht ganz verstehen – z. B. durch eine erschöpfte Abräumung von krankhaften Proteinen –, zur Verklumpung von Amyloid-beta Eiweißen. Infolge verklumpen auch Tau-Eiweiße und zusammen führt das zum neuronalen Zelluntergang. Nervenzellen werden geschädigt. Das führt zum eigentlichen kognitiven Defizit.
Es gibt Zweifel an der Amyloid-These, weil Menschen teils trotz Ablagerungen keine Symptome zeigen. Konzentriert man sich in der Medikamentenentwicklung zu sehr auf diesen Ansatz? Faktum ist, dass es eines der ersten neuropathologischen Merkmale ist, die sichtbar sind. Das in Kombination mit anderen zur kognitiven Verschlechterung führt. Deswegen hat man in der Medikamentenentwicklung versucht, diese Ablagerungen zu adressieren. Das hat man auch mit den Tau-Eiweißen versucht, es ist nicht gelungen. Weder das eine noch das andere Eiweiß ist allein verantwortlich. Es ist eine komplexe Interaktion, die wir nicht vollends verstehen. Unser Problem ist nicht, dass wir keine anderen Ansätze verfolgen, es hat bisher nichts anderes gefruchtet.
Wie kann Betroffenen aktuell geholfen werden? Wir raten zur frühen Diagnose, weil man dann früher das gesunde Leben umsetzen und bewusste Entscheidungen treffen kann. Wir geben die klassischen Antidementiva, Acetylcholinesterase-Hemmer, in frühen Stadien. Acetylcholin ist für die Signalübertragung von Nervenzelle zu Nervenzelle zuständig. Wir geben diesen Botenstoff zurück, was eine Verbesserung für einige Zeit bringen kann. Aber es ist kein ursächlicher Therapieansatz, die Krankheit schreitet weiter fort. Auch Ergo-, Logo- und Physiotherapie kommen infrage, ebenso wie die Stärkung des psychosozialen Settings, damit Betroffene und Angehörige gut leben können.
Was sind erste Anzeichen und wohin wende ich mich, wenn ich sie bemerke? Das erste ist die Vergesslichkeit – von gesprochenen, gelesenen, gesehenen Inhalten. Dann häufiges Nachfragen, Orientierungsschwierigkeiten und das häufige Suchen von Dingen. In solchen Fällen sollte man zum Facharzt für Neurologie oder Psychiatrie gehen und dieser entscheidet, was weiter zu tun ist.
Wird Alzheimer irgendwann heilbar sein? Ich bin sehr zuversichtlich, dass es mehr Therapien geben wird, als in den letzten 20 Jahren. Ob wir zu einer Heilung kommen, traue ich mich nicht sagen. Aber zu einer besseren Versorgung, Diagnostik und Therapie in frühen Stadien – auf jeden Fall. Irgendwann und hoffentlich bald.
Kommentare