In der Gewaltspirale

Insbesondere, wenn Kinder nicht über Erlebtes sprechen können, geben sie Gewalt an die nächste Generation weiter.
Familiäre Gewalt hat langfristige Folgen für Kinder und lässt sie später oft selbst gewalttätig werden.

Der Fall der kleinen Leonie sorgte für Aufsehen: Das zweijährige Mädchen starb vor Kurzem an den Folgen schwerer Verbrennungen nach einer "Strafdusche". Ihr Vater soll das Kind als Erziehungsmaßnahme unter die Dusche gestellt haben. Der Fall macht fassungslos, Gewalt in der Familie ist aber kein Einzelphänomen. Eine aktuelle Studie des Familienministeriums zeigt: Jedes zweite Kind in Österreich erlebt Gewalt – in körperlicher oder psychischer Form, 20 Prozent haben schon heftige Ohrfeigen bekommen oder wurden mit Ohren-Ziehen oder Haare-Reißen gezüchtigt. Ein Drittel der Erwachsenen verteidigt die "g’sunde Watschen".

"Es gibt Familien, in denen Gewalt zum Alltag gehört. Das ist problematisch, insbesondere dann, wenn sie als Erziehungsmittel eingesetzt wird", sagte Geschlechter- und Generationenforscher Prof. Gerhard Amendt von der Universität Bremen anlässlich der Präsentation des Handbuchs "Familiäre Gewalt im Fokus" am Freitag (siehe unten). In rund acht Prozent der österreichischen Familien herrsche eine Gewaltkultur, so die Schätzung von Amendt.

Überforderung

Gewalt werde oft eingesetzt, wenn Eltern oder Paare nicht in der Lage sind, Probleme mit Worten zu lösen. Schwierige Situationen und Überforderung werden mit den Fäusten ausgetragen. "Dem Kind gegenüber zu schweigen, es vor Geschwistern zu demütigen oder zu isolieren, indem es beispielsweise ins Zimmer geschickt wird, ist ebenfalls Gewalt. Die psychische Gewalt hat genauso Konsequenzen wie die körperliche", betont Amendt.

Beide Formen haben für Kinder und Jugendliche langfristige Folgen. "Kinder reagieren ganz häufig mit psychischen Erkrankungen, etwa Depression, Angst- und Bindungsstörungen. Familiäre Gewalt kann sich aber beispielsweise auch in sogenanntem schwierigen Verhalten zeigen", sagt Bernhard Kluger, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dazu zählen etwa ein geringes Selbstwertgefühl, Aggression, ein gestörtes Beziehungsverhalten und schlechte schulische Leistungen. Hinzu kommen häufig Entwicklungsverzögerungen.

Erblich

Auch wenn Kinder und Jugendliche selbst nicht direkt das Opfer von Gewalt sind, hat sie Auswirkungen auf ihre Entwicklung. Studien zeigen, dass 63 Prozent der Kinder, die Gewalt zwischen den Eltern erleben, sich langsamer entwickeln. Kluger: "Sie nehmen ihre Erfahrungen in ihr späteres Leben mit und sind als Jugendliche und Erwachsene oft selbst gewalttätig. Gewalt ist erblich."

So zeigen Untersuchungen, dass frühkindliche Misshandlung oder Vernachlässigung durch die engen Bezugspersonen dauerhafte Schäden im Gehirn verursachen können. Diese reduzieren die Fähigkeit, mit negativen Gefühlen wie Zorn, Angst und Scham umgehen zu können. Insbesondere, wenn Kinder nicht über Erlebtes sprechen können, geben sie Gewalt an die nächste Generation weiter. "Viele sagen sich selbst ,Ich werde meine Kinder nicht schlagen‘. Wenn es aber soweit ist, wiederholt sich die Gewalt oft. Diese Weitergabe muss durch Therapie und Beratung unterbunden werden", betont Amendt. Wichtig sei, die Welt nicht in Täter und Opfer einzuteilen, sondern herauszufinden, wie in Familien und Partnerschaften Gewalt entsteht.

Vom Klischee der "bösen Männer" und der "guten Frauen" müsse abgelassen werden. Eine in dem Buch zitierte Analyse der amerikanischen National Family Violence Surveys ergab, dass einseitige Gewalt in Partnerschaften bei einem Viertel der Fälle vom Mann, bei einem weiteren Viertel von der Frau ausgeübt wurde. In rund 50 Prozent der Haushalte übten beide Partner gegenseitig körperliche Übergriffe aus – und die Gewalt war in der Mehrzahl der Fälle von den Frauen ausgegangen.

Amendt: "Gewalt kommt nicht aus freiem Himmel. Sie ist immer an äußere Alltagssituationen oder innere Verwerfungen in der Paarbeziehung und Familie gebunden." So führen etwa 30 Prozent aller Scheidungsfälle zu Handgreiflichkeiten, auch Arbeitslosigkeit oder die Angst vor dem Verlust des sozialen Status können eine Rolle spielen. Auslösende Emotionen sind häufig Stress, Angst, Frustration und die mangelhafte Fähigkeit, Ärger zu verbalisieren.

Therapie

Maßgeblich für Therapie und das Verhindern von Gewalt sei, über Gewalterfahrungen sprechen zu können. Das Schamgefühl sei jedoch sehr groß. Das viel zitierte blaue Auge, das Betroffene vom Hinunterfallen auf der Stiege haben, ist ein klassisches Beispiel dafür, dass Familienmitglieder versuchen, Gewalt zu verbergen. "Oft kommt es zu einem Verleugnen oder Ignorieren, weil man nicht weiß, wie man damit umgehen soll. Das betrifft aber z. B. auch Lehrer, die immer mehr mit Mobbing unter Schülern konfrontiert sind und nicht entsprechend ausgebildet sind", meint Kluger. Zur hohen Hemmschwelle, über Gewalt zu sprechen, trage auch die öffentliche Ächtung von Gewalt bei.

In der Therapie halte man laut Amendt zu sehr an veralteten und meist wirkungslosen Methoden fest. Der aus dem "Täter-Opfer"-Schema resultierende Ansatz der Umerziehung des Täters nutze nichts. Das sei empirisch erwiesen. Vielmehr sei ein Beziehungsansatz in Form einer systemischen Therapie oder Familientherapie notwendig, an der alle Beteiligten mitmachen.

Verbot reicht nicht

Gewalt zu verbieten, reicht nicht aus, damit Menschen der Gewalt entsagen. In Österreich ist Gewalt gegenüber Kindern seit 25 Jahren per Gesetz verboten. "Die Aufforderung alleine ist zu wenig. Eltern müssen verstehen, was die Gewalt ihren Kindern antut", sagt Experte Amendt. In der Beratung und Therapie gehe es daher darum, die Familie an einen Tisch zu bringen und unterstützende Netzwerke inklusive professioneller Hilfe wie Therapeuten zu identifizieren. Amendt: "Gewalt wird sich nie beseitigen lassen. Aber man kann ihre Wiederholung eindämmen."

In der Gewaltspirale
Handbuch. „Familiäre Gewalt im Fokus“, herausgegeben von Prof. Gerhard Amendt, Ikaru Verlag, 740 Seiten, 41,40 Euro.
In der deutschen Ausgabe des US-Buches fassen 53 Autorinnen und Autoren Forschungsergebnisse und Behandlungsmodelle zusammen.

Neue Sichtweise. Die Autoren fordern eine neue Sichtweise: „Die ,schlechte Nachricht‘ ist, dass Schlichter, Gutachter und Richter alle nach traditionellen, veralteten Modellen ausgebildet werden“, lautet eine Aussage. So würde die Opferrolle der Frau überbetont, die Unterscheidung von Beziehungen mit tatsächlichem Missbrauch und solchen, die schwer konfliktlastig sind, würde oft entfallen.

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