"Millionen würden meinem Leben nicht unbedingt nur Gutes tun"
Er flucht und hadert, er jubelt und posiert, er schneidet seinen Teamkollegen das Haar und entspannt beim Pianospiel. Tormann Thomas Bauer ist das unkonventionelle Gesicht des österreichischen Handballs. Am 10. Jänner startet der Portugal-Legionär mit dem Nationalteam gegen Tschechien in die Heim-EM. Für den 33-Jährigen ist es das zweite Großereignis im eigenen Land nach der Europameisterschaft 2010.
KURIER: Was soll einem Gegenspieler durch den Kopf gehen, wenn er auf Ihr Tor zuläuft?
Thomas Bauer: Eigentlich ist nicht so wichtig, was genau ihm durch den Kopf geht. Sobald er überlegt, bin ich in seinem Kopf und damit schon im Vorteil.
Wie wichtig ist Psychologie im Tormannspiel?
Früher dachte ich, der Körper ist entscheidend. Gleichzeitig sehe ich aber Torhüter auf internationaler Bühne, die man absolut nicht als Athleten bezeichnen kann. In den letzten Jahren wurde mir immer mehr bewusst, dass der Kopf die entscheidende Rolle spielt. Ich denke mittlerweile sogar an ein Verhältnis 70 Prozent Kopf, 30 Prozent Körper. Am Ende eines Spiels mit beispielsweise 15 Paraden weiß ich genau, welche aus Intuition, Reaktion, aufgrund von Video oder aus einer total verrückten, spontanen Aktion passiert sind. Die Hälfte der Paraden verdanke ich der Videoanalyse.
Sie sind auf dem Spielfeld sehr extrovertiert, heizen Fans und Spieler immer wieder an. Bekommen Sie das alles so richtig mit?
Von außen wirkt es, als würde ich mich um alles und jeden auf dem Spielfeld und in der Arena kümmern und oft nicht den totalen Fokus haben. Tatsächlich bin ich so in Trance, dass ich nach Abpfiff gar nicht weiß, welche Abwehrformation wir gespielt haben, welche Mitspieler mit mir auf dem Feld gestanden sind oder ob die Halle voll oder halb leer gewesen ist.
Was sagen Familie und Freunde zu Ihrem Verhalten auf dem Spielfeld?
Als ich noch Jugendspieler war, war das sicherlich anstrengend für Eltern und Zuseher. Aber es war meine Art zu spielen und den Sport zu leben. Wenn ich im Flow bin, passiert alles wie von selbst. Ich plane mein Verhalten nicht. Ich glaube, mittlerweile hat sich Handball-Österreich nicht nur daran gewöhnt, sondern erwartet das von mir.
Was ist das für ein Gefühl, einen Wurf von 120 km/h mit bloßen Händen zu parieren?
Mit den Händen, den Beinen oder einem anderen Körperteil, es ist das pure Glücksgefühl.
Oft werden Bälle absichtlich gegen den Kopf des Tormanns geworfen. Gibt es da böse Worte?
Wenn ich das Gefühl habe, dass es vorsätzlich war, gibt’s einen selbstbewussten Blick und Jubel, um den Spieler zu zermürben. Wenn der Spieler versucht hat, um den Kopf herum zu werfen und mich aus Unfähigkeit trifft, lasse ich ihn das genau so wissen.
Es gibt Torhüter, die größer sind oder massiger. Wie versuchen Sie, diese Defizite wettzumachen?
Darüber habe ich lange philosophiert. In meiner Zeit in Lemgo habe ich mich deshalb auf 102 Kilo auftrainiert. Mittlerweile habe ich mich mit meinen 1,90 Metern und meinem Optimalgewicht von 92 Kilo nicht nur abgefunden, sondern bin der Meinung, dass genau diese Kombination mir eine lange, verletzungsarme Karriere verschaffen wird. Jedes Kilo mehr geht im Endeffekt auf die Knorpel, und davon möchte ich auch nach meiner Karriere noch ein wenig übrig haben. Meine Stärken liegen in der Schnelligkeit, Beweglichkeit und in der Unberechenbarkeit.
Die Leistungen der Torhüter sind entscheidend für den Erfolg. Nun steht die Heim-EM an. Ist das Team bereit für den großen Wurf?
Dessen bin ich mir bewusst. Ich und meine Torhüterkollegen müssen, unterstützt von einer harten Abwehr, Topleistungen bringen, um die Hauptrunde zu erreichen. Wir wollen es, wir haben es auch 2018 und 2019 gewollt. Aber es reicht nicht, den Erfolg nur zu wollen.
Sie sind einer von zwei Spielern, die auch schon 2010 bei der Heim-EM dabei gewesen sind. Kann man die Mannschaften von damals und heute miteinander vergleichen?
Überhaupt nicht. 2010 waren wir eine Truppe, getragen von gestandenen, fertigen Bundesliga-Spielern. Wir haben sicherlich mit Janko Bozovic, Robert Weber und mir Spieler mit viel Erfahrung. Niko Bilyk führt das Team als junger Kapitän. Aber der Teamerfolg lastet immer auf mehreren Schultern. Wie auch 2010 müssen zwei oder drei weitere Spieler aus dem Schatten treten und beflügelt von der Atmosphäre Unglaubliches leisten.
Im Jahr vor der EM wurde Ales Pajovic neuer Teamchef. Sie haben schon einige Trainer erlebt. Wie lange braucht man, um zu erkennen, ob ein Trainer etwas taugt?Ich brauche dafür nur ein einziges Training. Als ich mich im Sommer 2018 bei der HSG Graz fit halten durfte, kannte ich Pajovic bereits aus Spielen in der Bundesliga. Dass er ein guter Typ ist, wusste ich. Dass er ein Toptrainer ist, wusste ich nach dem ersten gemeinsamen Training.
Was macht einen guten Handball-Trainer aus?
Vielleicht ist es unfair, aber ich messe alle meine Trainer an Dagur Sigurdsson (Teamchef der Österreicher von 2008 bis 2011; Anm.). Dagur ist ein grandioser Typ mit einer unbeschreiblichen Aura. Dazu ein Kämpfer, der nie aufgibt und scheinbar nichts an sich ranlässt. Die Spieler folgen ihm ohne Wenn und Aber. Ähnlich war es mit seinen Nachfolgern. Österreichs Verband hat ein gutes Gespür für Trainer, aber die Wahrheit liegt auf dem Platz. Und dafür sind wir Spieler zuständig.
Spielt der Familienzuwachs eine Rolle bei der Auswahl des Klubs?
Natürlich. Die Familie hat Priorität. Ist es vereinbar, machen wir es. Aber ich habe bereits, als Laura schwanger war, gut dotierte Verträge abgelehnt und mich bewusst für die Vereinslosigkeit entschieden, bis eine besondere Anfrage kommt. Deshalb hat es mich auch gestört, wenn Leute behauptet haben, ich würde keinen Verein finden.
Haben Sie schon einen Plan für die Karriere nach der Karriere?
Ich würde gerne mein Lehramtsstudium beenden und den Lehrberuf mit einer Trainertätigkeit verbinden. Mit Sicherheit werde ich auch ein Projekt im Bereich Torwarttraining starten.
Handball in Österreich hat von den Erfolgen 2010 bei der Heim-EM, die auf Rang neun geendet hat, enorm profitiert. Dennoch bleibt der Sport hier eine Nebenerscheinung. Fehlt es an Durchsetzungsvermögen?
Jeder einzelne Handballer und vor allem Nationalspieler hat die Möglichkeit, sein Umfeld für diese tolle Sportart zu begeistern. Wer zu einem Handballspiel kommt, soll etwas Tolles erleben, und dafür sind wir in der Arena verantwortlich. Unsere Spiele bei der EM laufen im Hauptprogramm des öffentlichen Fernsehens. Wir müssen so auftreten, dass sich die Leute da draußen mit uns identifizieren und stolz sind, wie wir für Österreich kämpfen.
Geboren am 24. Jänner 1986, startete Bauer mit dem Handball im Gymnasium in Bad Vöslau. Bis 2009 war er bei den Fivers Margareten engagiert, ehe seine Auslandskarriere begann: Sechs Jahre in Deutschland, drei in Frankreich und ein Engagement in Norwegen folgten. Seit 2018 spielt er beim FC Porto. Die EM ist sein siebentes Großereignis.
Der leidenschaftliche Sänger, Gitarrist und Pianist überstand 2002 bei der Vorausscheidung des ORF-Gesangwettbewerbs Starmania in der ersten Staffel eine Runde.
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