In den Augen vieler Demonstrierender „zu wenig, zu spät“. „Es interessiert uns nicht, ob sie singen oder nicht“, beschreibt ein iranischer Twitter-User, was viele seiner Landsleute denken. „Zu diesem Zeitpunkt bombardiert die Islamische Republik Städte in der Provinz Kurdistan.“ Sie hätten sich im Vorfeld der WM härtere Kritik am Regime erhofft, viele hatten den Boykott verlangt. Dann folgte der Besuch der Fußballstars beim Präsidenten, inklusive Verbeugung, und fröhliche Fotos im Teamdress. Das war zu viel. Das „Team Melli“ war vor der Weltmeisterschaft von den Iranern in „Team Mullah“ umgetauft worden. Sie wurden als „Verräter“ bezeichnet und als „Agenten des Regimes“. Nach dem Spiel gegen England feierten Anhänger der Proteste daheim im Iran die Niederlage.
Da half auch das Schweigen bei der Hymne nicht. Obwohl die Spieler damit Konsequenzen für sich und ihre Familien riskieren. Auch wenn iranische Sportjournalisten in Doha Konsequenzen vorerst ausschlossen. Dies werde während des Turniers nicht passieren, schrieben sie, da nicht alle Spieler der Mannschaft gesperrt werden könnten. Aber eine temporäre Sperre oder Gehaltskürzungen zumindest für die Spieler, die in der iranischen Liga beschäftigt sind, wären nach der WM durchaus denkbar.
Und nicht nur das. Viele Sportlerinnen und Sportler, die sich bereits für die Proteste ausgesprochen haben, spürten die Folgen von Kritik bereits am eigenen Leib. Etwa die Ex-Kicker Ali Daei und Ali Karimi. Daei habe man versucht zu entführen, Karimi spricht von Drohungen gegen ihn und seine Familie.
Dass es noch viel weiter gehen kann, beweist der Fall des Ringers Navid Afkari, der für seine Kritik erhängt wurde. Offiziell hatte er zugegeben, bei den Protesten 2018 eine Wache erstochen zu haben – ein erzwungenes Geständnis, sagen Menschenrechtsaktivisten. Seine Familie steht, wie die Angehörigen anderer Kritiker, ständig unter Beobachtung. Einschüchterung und Verhaftungen stehen an der Tagesordnung im Iran. Die Angst des Regimes vor Kritik ist groß. Vor allem, wenn sie von bekannten Athleten kommt. Sportler sind sehr populär im Iran.
Insbesondere der Fußball „gehörte“ lange dem Volk. Er vereinte die verschiedensten Bevölkerungsgruppen und -schichten – und war nur schwer zu fassen für die alles kontrollierenden Führer des Landes. Doch nach und nach konnte das Regime sich den Sport einverleiben. Die Rekrutierung junger Spieler verlief oft über die Revolutionsgarde, Präsident des Fußballverbandes ist Mehdi Taj, mächtiges Mitglied der Revolutionsgarde. Deshalb muss sich das „Team Melli“ mittlerweile den Vorwurf gefallen lassen, vom Regime instrumentalisiert zu werden.
„Lasst sie einfache Fußballer sein“, forderte der Teamchef Carlos Queiroz in Katar wütend mit Blick auf die vielen Journalistenfragen. „Sie wissen nicht, was diese Kinder hinter den Kulissen erlebt haben, dabei wollen sie nur Fußball spielen“, sagte er. Und Mittelfeldspieler Alireza Jahanbakhsh sagte, er wisse, dass solche Fragen die Mannschaft nur vom Fokus auf wichtige Spiele ablenken solle.
Die Presse im Iran ignorierte das Schweigen bei der Hymne am Tag danach übrigens gekonnt. Auch die iranischen Journalisten im Stadion wüteten gegen den stillen Protest. Sie waren sich sicher: Beim nächsten Spiel werde das nicht mehr vorkommen.
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