Regierungsbildung: Türkis-grüne Insektensticheleien
Der KURIER berichtete am Sonntag über die Koalitionsverhandlungen zwischen Türkis und Grün.
Der Bericht bestand aus drei Teilen:
Den Zeitplan - ein Abschluss sei erst zwischen 7. und 11. Jänner zu erwarten. Sebastian Kurz wolle Anfang Jänner fertig sein, das letzte Wort habe aber der grüne Bundeskongress.
Inhaltliches - die Grünen würden ein an Kompetenzen und Budgetmitteln üppig ausgestattetes Umweltschutzministerium bekommen, die von ihnen geforderte Verteuerung von klimaschädlichen Emissionen hätten sie durchgebracht, die Grüne Leonore Gewessler werde eine Schlüsselrolle in der Koalition einnehmen.
Am Schluss des Artikels standen noch zwei Absätze über Atmosphärisches - wie bei ÖVP und Grünen oft Welten aufeinanderprallen, und dass die ungleichen Partner dabei "tastend aufeinander zugehen", was Zeit koste. Der KURIER hatte vier Beispiele recherchiert, um den Clash der türkis-grünen Kulturen zu illustrieren, zwei davon in dem Artikel erwähnt, darunter die grüne Forderung, nach 20 oder 21 Uhr in großen Sportanlagen (Fußballstadien) das Licht abzudrehen, weil die Scheinwerfer die Insekten irritieren.
Kaum war die Story online, ging die Post ab.
Auf Twitter.
Irgendwer pickte aus der gesamten Story das Stadiondetail raus und jazzte es hoch ("Grüne werden lächerlich gemacht"). Der nächste Twitterant behauptete, Sebastian Kurz - wer sonst?! - stecke dahinter. Der Dritte glaubte das ung'schaut und schloss messerscharf: "Jetzt startet der Vernichtungsfeldzug der ÖVP gegen die Grünen". Inzwischen, es war schon gegen Sonntagmittag, waren ein paar SPÖler aufgewacht, bemerkten die wachsende grüne Hysterie und heizten sie mit hämischen Tweets an (Motto: So ist er, der Kurz, der führt Euch vor, hahaha).
Ergebnis: Binnen weniger Stunden schwoll die Sache zu einem Amalgam aus Unterstellungen, Intrigen und Gehässigkeiten an, und die Grünen hatten sich aus dem Nichts heraus in einen Konflikt mit der ÖVP hineingetwittert, der nie existierte.
"Lauter Schwachsinn"
Die Emotionswelle setzte sich bis in die Montagblätter fort, die ihrem Publikum etwas von einem "ÖVP-Foul" erzählten.
Weiterer Gipfel der Geschichte: Der frühere grüne Bildungssprecher Harald Walser wirft dem KURIER via Twitter vor, den Koalitionsverhandlungen im Weg zu stehen, weil dieser "jeden Schwachsinn" abdrucke (den die ÖVPler verzapften).
Im Vergleich dazu nimmt sich das Message Control-Center der ÖVP wie ein liberaler Klub aus.
SPÖ hofft auf Grün-Wähler
Der Vorfall zeigt, wie einfach es für die SPÖ ist, Türkis und Grün gegeneinander auszuspielen. Auf Twitter sind vor allem Grüne und Sozialdemokraten aktiv, und zwischen diesen beiden wird es öfter krachen, wenn es zu Türkis-Grün kommt. Die krisengebeutelte SPÖ hofft ja inständig auf Wähler, die sich von den Grünen abwenden, wenn diese mit der ÖVP gemeinsame Sache machen.
Alt-Grüne gegen Türkis-Grün
Hinzu kommt, dass Werner Kogler zunehmend Wind aus den eigenen Reihen ins Gesicht bläst. Peter Pilz, der Meisterstichler, wartet noch auf seine Chance in Wien. Starke Grün-Persönlichkeiten sind gegen die Koalition mit der ÖVP. Die frühere Grünen-Chefin Madeleine Petrovic droht ihrer Partei wegen der Asylpolitik der ÖVP mit Druck "von der Straße". Martin Margulies, der dritte Wiener Landtagspräsident, hat sein Nein zu Türkis-Grün deponiert, falls Sebastian Kurz nicht von seiner Budget-, Sozial- und Migrationspolitik abgehe. Grüne Leuchtturmprojekte im Umweltbereich sind Margulies zu wenig.
Genau das zeichnet sich aber ab. Nulldefizit, sinkende Steuern und dichte Grenzen: von diesen Eckpfeilern wird der designierte Bundeskanzler Sebastian Kurz nicht abweichen. Er hat am 29. September 38 Prozent erhalten, dafür wurde der gewählt. Den Grünen gesteht er im Gegenzug beim Klimaschutz und bei der Transparenz viel Gestaltungsspielraum zu. Dafür seien diese in erster Linie gewählt worden.
Es wird ernst
Die Entscheidung über Türkis-Grün rückt näher, es wird ernst, und entsprechend steigen die Nervosität und die innerparteilichen Spannungen bei den Grünen. Wären sie ihrer Sache mit der türkis-grünen Koalition sicher, hätten sie ganz anders reagiert. Sie hätten dazu stehen können, dass Lichtverschmutzung das Ökosystem beeinträchtigt und daher in den Koalitionsverhandlungen selbstverständlich ein Thema ist. Wer, wenn nicht die Grünen, sollte das einbringen? Sie hätten auf die Stadt Wien verweisen können, die bereits Ende 2012 auf der Donauinsel sämtliche Leuchten austauschte, um Insekten zu schützen. Sie hätten die Gelegenheit nutzen können, das Thema Lichtverschmutzung unter die Menschen zu bringen, bei gleichzeitiger Versicherung, niemand müsse sich fürchten, dass Fußballspiele künftig im Finstern stattfinden.
Der Weg zu einer Regierungspartei ist aber offenbar noch weit.
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