Von Ibiza zur ÖVP: Wenn schon das Verfahren eine "Strafe" ist
Robert Kert muss gleich zu Beginn des KURIER-Gesprächs zugeben: Er hat keinen Überblick mehr über das Mega-Verfahren, das vor dreieinhalb Jahren mit der „Ibiza-Affäre“ gestartet ist. Niemand hat das, außer vielleicht der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA).
Derzeit liegt der Fokus auf den Aussagen des ehemaligen ÖVP-Intimus Thomas Schmid, der Kronzeuge werden will. Im U-Ausschuss deutete er am Donnerstag an, dass bald noch mehr ans Tageslicht kommen könnte.
Bevor es also noch unübersichtlicher wird, wagt Kert, Vorstand des Instituts für Wirtschaftsstrafrecht an der WU Wien, den Versuch, die Causa einzuordnen.
Die fünf wichtigsten Aspekte:
1. Der Akt
Als „Strafsache gegen Heinz-Christian Strache und andere“ wird der Akt bei der WKStA geführt. Irritierend, denn mit dem Ex-FPÖ-Chef haben die aktuellen Enthüllungen nichts zu tun.
Der Grund: Beinahe alle Ermittlungen, die sich seit dem Ibiza-Video ergeben haben (siehe Infobox) sind in diesen einen Akt gepackt. Die WKStA meint, dass alles – schon durch Überschneidungen bei den Akteuren – zusammenhängt.
Ab Mai 2019
lösen das Ibiza-Video, anonyme Anzeigen und Zufallsfunde u. a. Ermittlungen zu Parteispenden, Postenschacher, Inseraten und politischen Interventionen aus.
45 Beschuldigte
gibt es mittlerweile in dem Verfahrenskomplex.
Vorwürfe
reichen von Untreue, Missbrauch der Amtsgewalt, Verletzung des Amtsgeheimnisses, falscher Beweisaussage, Bestechlichkeit bzw. Bestechung.
Rechtskräftig verurteilt
ist noch niemand. Ex-FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache stand schon vor Gericht, ein Verfahren muss aber wiederholt werden. Fertig ist die WKStA angeblich mit den Ermittlungen gegen Sebastian Kurz wegen Falschaussage im U-Ausschuss. Eingestellt wurde die u.a. die Schredder-Affäre.
Kert sieht dies zwar als gesetzeskonform an, es sei aber weder notwendig noch besonders praktisch. Und er sieht ein großes Problem: Jeder Anwalt, der einen der Beschuldigten vertritt, hat Zugang zum gesamten Akt – auch zu Teilen, die ihn gar nichts angehen. „Die Behörde hat daher überhaupt keine Kontrolle mehr“, sagt Kert.
Kein Wunder also, dass immer wieder Aktenteile in der Öffentlichkeit landen.
2. Die Beschuldigten
Erinnert sich noch jemand an Ex-FPÖ-Staatssekretär Hubert Fuchs? Er ist einer der rund 45 Beschuldigten im Akt, ihm wird eine Beteiligung am Casinos-Postenschacher vorgeworfen.
Ist es „Nebenfiguren“ wie Fuchs zumutbar, so lange in einem Verfahren zu hängen, ohne dass sich Nennenswertes tut? „Nein“, sagt Kert. „Das ist eine riesige Belastung, auch psychisch.“ Oft sei das lange Verfahren selbst schon wie eine „Strafe“.
Bei Fällen wie Fuchs empfiehlt der Strafrechtler, sie gesondert zu erledigen.
3. Die Ermittlungsstränge
Der Akt wurde über die Jahre immer praller – auch wegen der vielen Zufallsfunde am Handy von Ex-ÖVP-Mann Schmid. Die WKStA durchforstet die 300.000 Chats mit Suchbegriffen.
Kert argumentiert mit Hausverstand: „Lieber zuerst die Dinge, die am Tisch liegen, fertig ermitteln, bevor man etwas Neues anfängt.“
Und er hat eine Idee, die nicht ganz neu ist: Stichwort: „Daschlogt’s es“ (©Christian Pilnacek).
Die Idee ist, Stränge, die eine eher untergeordnete Rolle spielen bzw. bei denen man nicht weiterkommt, fallenzulassen und sich auf die großen Vorwürfe zu konzentrieren. Ein Beispiel: „Wenn man es mit einem riesigen Untreuefall zu tun hat, für den schon zehn Jahre Haft drohen, brauche ich nicht jede einzelne kleine Betrügerei auch noch aufklären.“
Grundsätzlich sind Staatsanwaltschaften dazu verpflichtet, alles zu ermitteln, erklärt Kert. Sie dürfen kleinere Delikte nicht einfach so ignorieren – das wäre Amtsmissbrauch.
4. Die Verfahrensdauer
Die Uhr fängt an zu ticken, sobald die Staatsanwaltschaft die erste Aktion gesetzt hat – eine Razzia, eine Einvernahme etc. Nach drei Jahren muss die Behörde bei Gericht erklären, warum sie noch nicht fertigermittelt hat.
Sofern kein Grund zur Einstellung vorliegt, verlängert das Gericht um zwei Jahre. Und dann wieder um zwei Jahre, und so weiter. Sanktionen für die Verzögerung gibt es nicht.
Von einer automatischen Einstellung nach drei Jahren, wie sie etwa die Rechtsanwaltskammer vorschlägt, hält Kert nichts.
Stattdessen sollten Gerichte strenger prüfen, sagt der Strafrechtler. „Wenn ein Richter feststellt, dass jahrelang nicht ermittelt wurde, könnte er selbst eine kürzere Frist setzen und ein Ergebnis einfordern. Wenn es keines gibt, wird eingestellt.“
Lange Verfahren seien jedenfalls „ein riesiges Problem für den Rechtsstaat“, betont Kert. „Der Zweck des Strafrechts ist, dass möglichst zeitnahe auf eine Tat reagiert wird. Irgendwann weiß niemand mehr, worum es da gegangen ist, und hat so auch kein Gefühl mehr für das Unrecht, das geschehen ist.“
5. Die Anklagereife
Die WKStA hat in der Umfrage-Causa eine Kronzeugin, Meinungsforscherin Sabine Beinschab, und das 454-seitige Geständnis des potenziell zweiten Kronzeugen Schmid. Dazu gibt es Rechnungen, Mails und Chats, die auf missbräuchliche Verwendung von Steuergeld hindeuten.
Reicht das, um die Causa schon morgen zur Anklage zu bringen? Theoretisch wäre das möglich, sagt Kert, ohne den Akt genau zu kennen.
Wenn die WKStA Beinschab und Schmid für glaubwürdig und ihre Aussagen als plausibel einschätzt, die Gegenbeweise gecheckt hat und dann eine Verurteilung für wahrscheinlicher hält als einen Freispruch, hat sie eine Anklage zu schreiben. Alles Weitere wäre dann dem Gericht und der freien Beweiswürdigung überlassen.
Kert: „Viele Gerichtsprozesse, sogar wegen Mordes, basieren allein auf Indizien. Das ist nicht optimal, aber es geht.“
Fragt sich zum Schluss: Könnte die Ibiza-Causa so lange dauern wie die ähnlich komplexe Buwog-Causa? „Das hoffe ich nicht, und ich glaube es auch nicht“, sagt Kert.
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