Die Neos ziehen die Reißleine und werfen gemeinsam mit der ÖVP der SPÖ Reformunwillen vor. Trotzdem wollen die Türkisen jetzt mit den Roten weiterverhandeln.
Boulevardmedien hatten bereits den entscheidenden Durchbruch bei den Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP, SPÖ und Neos für den Dreikönigstag herbeigeschrieben. Jetzt stehen die drei Parteien vor einem Scherbenhaufen. In einer eilig einberufenen Pressekonferenz kündigte Neos-Parteichefin Beate Meinl-Reisinger Freitagvormittag 96 Tage nach der Nationalratswahl den Ausstieg ihrer Partei aus den Gesprächen an.
In den vergangenen Tagen sei der Eindruck entstanden, so die Neos-Chefin, dass in zentralen Fragen „leider nicht nur keine Fortschritte, sondern eigentliche Rückschritte gemacht wurden“.
Wie es jetzt weitergehen soll, bleibt ungewiss. Noch Donnerstagabend verhandelten die drei Parteichefs bis tief in die Nacht, wenige Stunden später versucht man, sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen zu übertreffen.
Meinl-Reisinger sagt, es hätte keinen Durchbruch bei langfristigen Reformen gegeben. Explizit erwähnt sie eine Pensionsreform. Wie hätte die ausgesehen? Im Gespräch waren mehrere Optionen. Beispiel: Die Pensionen 2026 und 2027 jeweils einen Prozentpunkt unter der Inflationsrate anzupassen.
Damit sollten frühere Pensionserhöhungen, die häufig über der Inflation lagen, ausgeglichen werden. Hier habe die SPÖ den Neos zuerst zugestimmt, sei kurz vor dem Jahreswechsel aber zurückgerudert. Selbiges gelte für eine mögliche Anhebung des gesetzlichen Pensionsalters auf 67 Jahre ab 2034 (siehe Infobox).
Meinl-Reisinger attackiert in ihrer Rede SPÖ-Chef Andreas Babler nicht direkt. Während sie sich bei Kanzler Karl Nehammer und Klubchef August Wöginger namentlich für deren Willen zu Reformen bedankt, erwähnt sie Babler bewusst nicht.
Aber auch Kräfte in der ÖVP – etwa der Bauernbund – hätten Reformen blockiert, berichten pinke Insider: Sei es eine Gremienreform beim ORF, die Senkung der Parteienförderung oder die Abschaffung klimaschädlicher Subventionen wie das Dieselprivileg. Nach Weihnachten habe sich insgesamt das Gefühl verfestigt, dass nichts mehr weitergehe.
Pensionsreform Die Neos legten mehrere Ideen vor. So wollten sie die Pensionen 2026 und 2027 einen Prozentpunkt unter der rollierenden Inflation anpassen. Das gesetzliche Pensionsantrittsalter sollte ab 2034 schrittweise auf 67 Jahre steigen – jährlich um drei Monate, bis 2040. Und zwar dann, wenn das faktische Antrittsalter bis dahin nicht ausreichend steigt. Die SPÖ soll vor dem Jahreswechsel dagegen gewesen sein
Neue Steuern Um das Budget zu sanieren, fordern Experten auch neue Einnahmen. Die SPÖ erklärte vermögensbezogene Steuern vor Weihnachten zur Koalitionsbedingung. Welche? Verhandler von ÖVP und Neos beteuern, es habe keine konkreten Modelle gegeben. Die SPÖ moniert wiederum, dass Türkis-Pink die Mehrwertsteuer als „Massensteuer für alle“ von 20 auf 22 Prozent habe erhöhen wollen
Sparmaßnahmen Die ÖVP soll die Abschaffung von klimaschädlichen Subventionen wie dem Dieselprivileg und auch eine Kürzung der Parteienförderung blockiert haben
Wirtschaft ÖVP und Neos hätten gerne die Lohnnebenkosten gesenkt und Überstunden steuerbefreit. Eine Einigung war nicht absehbar
Die türkise Version
Rasch zur Stelle war nach Meinl-Reisingers Auftritt ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker – um deutlicher als die Neos-Chefin mit dem Finger auf die SPÖ zu zeigen. „Während sich Teile der Sozialdemokratie konstruktiv eingebracht haben, haben in den letzten Tagen die rückwärtsgewandten Kräfte in der SPÖ überhandgenommen“, so Stocker. Damit meint er vor allem Babler und sein Umfeld, die bis zuletzt auf Maßnahmen wie Vermögenssteuern beharrt hatten, um das Budget zu sanieren. Stocker weiter: Nötig seien vielmehr nachhaltige Veränderungen und Reformen, um Beschäftigung und Wohlstand zu halten oder die Pensionen abzusichern.
Auch hinter den Kulissen schieben türkise Verhandler der SPÖ den Schwarzen Peter zu. Für Parteichef Karl Nehammer könnte es nun intern eng werden. Nachdem er bis zuletzt dezidiert eine Koalition mit der FPÖ unter Parteichef Herbert Kickl ausgeschlossen hat, bleibt ihm nicht mehr viel Handlungsspielraum.
Am Nachmittag waren Nehammer und Babler zu Gesprächen bei Bundespräsident Alexander Van der Bellen zu Gast. Der Inhalt: unbekannt. Der ÖVP-Vorstand sprach Nehammer Freitagabend jedenfalls das Vertrauen aus – zuvor machen Gerüchte über ein Comeback von Ex-Kanzler Sebastian Kurz die Runde (siehe Seite 5). In einer kurzen Videobotschaft bedauerte Nehammer den Neos-Ausstieg und meinte kryptisch: „Die konstruktiven Kräfte der politischen Mitte sind aufgerufen, diesen Weg jetzt mit uns mitzugehen.“
Pfad zur Budgetsanierung Bis 15. Jänner müsste Österreich der EU-Kommission ein Maßnahmenpaket übermitteln, sofern man ein Defizitverfahren verhindern will. Das dürfte nun nicht mehr passieren. Einig waren sich die drei Parteien, das Budget über sieben Jahre sanieren zu wollen. Mit oder ohne Defizitverfahren? Das blieb offen. Die Neos sollen zuerst für eine vierjährige Sanierung plädiert, sich dann aber kompromissbereit gezeigt haben
Kindergrundsicherung In der Gruppe Arbeit und Gesundheit sollen sich die Parteien auf eine Reform der Sozialhilfe inklusive Kindergrundsicherung geeinigt haben – allerdings noch nicht auf ein konkretes Modell
Integrationsjahr Geeinigt haben sollen sich ÖVP, SPÖ und Neos auf ein Integrationsjahr. Jeder Flüchtling hätte demnach ab dem ersten Tag verpflichtende Schulungen, Deutschkurse oder Weiterbildungen absolvieren müssen
Wohnen Die Verhandler hatten sich darauf geeinigt, Jungfamilien bei der Vermietung gemeinnütziger Wohnungen zu bevorzugen. Die Wohnbauförderung – Bundesländer geben sie häufig nicht für den Wohnbau aus – wollte man wieder zweckwidmen
Die rote Version
Glaubt man SPÖ-Chef Andreas Babler, der sich nach den Gremiensitzungen zu Wort meldete, sei der Ausstieg der Neos völlig überraschend gekommen. „Wir haben gestern noch verhandelt und waren kurz vor dem Ziel. Wir waren bereit, als SPÖ große Wege in diesen Verhandlungen zu gehen“, so der SPÖ-Obmann.
Es gehe aber nicht, dass Pensionisten und Menschen im öffentlichen Dienst durch Gehaltskürzungen einen unverhältnismäßig großen Beitrag leisten würden, während sich die Reichen davonstehlen würden.
So sei es der türkis-pinke Plan gewesen, hieß es schon untertags in SPÖ-Kreisen, die Gehälter im öffentlichen Dienst über drei Jahre hindurch unterhalb der Inflationsrate zu erhöhen, was einem Reallohnverlust gleichkommen würde. Das Gleiche sei auch bei den Pensionen beabsichtigt gewesen. Darüber hinaus eine Anhebung des gesetzlichen Pensionsalters auf 67 Jahre. ÖVP und Neos hätten zudem die Mehrwertsteuer auf 22 % anheben wollen.
Scharf ging Babler mit den Neos ins Gericht. Diese hätten „Taktik vor Verantwortung gestellt“. Gleichzeitig will Babler mit der ÖVP weiterverhandeln, mit der sich eine knappe Mandatsmehrheit ausgehen würde. „Wir stehen für Verhandlungen auf Augenhöhe zur Verfügung. Es liegt an Karl Nehammer, die SPÖ steht bereit“.
Ein Angebot, das angenommen wird: Aus der ÖVP heißt es, dass bereits am Nachmittag vereinbart wurde, dass nach dem SPÖ-Präsidium die Verhandlungen im Kanzleramt weitergeführt werden.
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