SOS-Kinderdorf: Deutsche Justiz ermittelte gegen Ex-Präsident Kutin

Ein Mann mit Anzug und Krawatte hält seine Hand ans Gesicht.
Der Leitfigur wurden bereits 2023 Ehrentitel aberkannt, Basis dafür war der Bericht einer internationalen Kommission. Diese hegte zudem den Verdacht auf Menschenhandel durch SOS-Kinderdorf Österreich.

Das Bild des „Großvaters für die Kinder der Welt“ ist vergangene Woche zerbrochen: Da wurde bekannt, dass Helmut Kutin, langjähriger Präsident von SOS-Kinderdorf, einem mutmaßlich pädophilen Großspender aus Niederösterreich Zugang zu Kindern ermöglicht haben soll. Auch nachdem der Mann dort mehrere Kinder missbraucht haben soll und Besuchsverbot bekam.

Entsprechend groß war die Empörung in Österreich. Eine Reaktion kam auch vom Verein „SOS-Kinderdorf weltweit“ (siehe Glossar unten) mit Sitz in München, dem wesentlichen Standbein zur Finanzierung der Organisation. Der Verein ließ – von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – in einer Mitteilung auf seiner Website eine Bombe platzen:

Nämlich, dass eine von SOS-Kinderdorf International eingesetzte Kommission (die „Independent Special Commission“, ISC, dazu später mehr) bereits 2023 rund um den Missbrauchsfall des Großspenders „Fehlverhalten durch Helmut Kutin festgestellt“ habe.

Es hätten „fortgesetzte Gespräche mit den Strafverfolgungsbehörden“ stattgefunden, und „die Staatsanwaltschaft hat erste Ermittlungen aufgenommen“. Aufgrund der laufenden Untersuchungen sei es zunächst nicht möglich gewesen, öffentlich darüber zu berichten. 

Und: „Mit dem Tod Helmut Kutins im April 2024 wurde das Verfahren eingestellt, ohne dass die Vorwürfe abschließend geklärt werden konnten.“

Ermittelt hat damals eine zuständige deutsche Staatsanwaltschaft. Um welche Tatbestände es ging, ist unklar. Der Verein in München ließ eine KURIER-Anfrage bis Redaktionsschluss unbeantwortet. 

Für diesen wogen die Vorwürfe gegen Kutin aber offenbar derart schwer, dass er bereits im November 2023 den Ausschluss der langjährigen Führungsfigur beschlossen hat; zugleich wurde Kutin die Ehrenpräsidentschaft entzogen. Im selben Jahr wurde ihm – ohne es öffentlich zu kommunizieren –, infolge der Nepal-Vorwürfe auch beim Dachverband SOS-Kinderdorf International die Ehrenmitgliedschaft entzogen, wie der KURIER erfuhr.

Während Österreich seinen Ehrenpräsidenten also bis zuletzt abfeierte, war er außerhalb der Staatsgrenzen schon vor zwei Jahren von seinem Sockel gestürzt worden.

Verfahren verzögert, dann starb der Verdächtige

Dazu muss man wissen: Das Verhältnis zwischen dem österreichischen Verein und dem internationalen Dachverband ist offenbar ein schwieriges: In Österreich wurde 2021 ja die „Independent Childcare Commission“ unter der Leitung von Waltraud Klasnic eingesetzt, um diverse Vorwürfe im Ausland zu untersuchen. Parallel dazu setzte der Dachverband im selben Jahr eine eigene Kommission ein – die erwähnte ISC. Und deren Erhebungen waren deutlich ergiebiger.

In dem 2023 veröffentlichten ISC-Bericht sind bereits schwere Vorwürfe gegen Ex-Präsident Kutin und andere Führungspersönlichkeiten aus Nepal und Österreich rund um den Großspender-Fall – wenn auch ohne Namen zu nennen – klar dokumentiert. 

Der Verdacht, dass eine „hochrangige internationale Persönlichkeit“ dem Täter Beihilfe geleistet habe, sei zwar weder belegt noch widerlegt worden, „es gibt jedoch Beweise für eine unangemessene Sonderbehandlung des Täters, die seinen Zugang zu Kindern erleichterte“ (siehe Faksimile). Bekanntlich durfte der Spender in den Kinderdörfern übernachten.

Screenshot

Es sei bedenklich, heißt es in dem Report weiter, dass die Antwort der Organisation von Anfang an durch Verzögerung gekennzeichnet gewesen sei und so „die Möglichkeit zum Abschluss dieses Verfahrens beeinträchtig haben könnte“.

Die ISC spielt damit auf den Tod des Großspenders im Sommer 2022 an, wodurch die Ermittlungen eingestellt werden mussten; will es dabei aber nicht bewenden lassen.

Das hochkarätig besetzte ISC-Team aus Höchstrichterin und Ermittlern mehrerer Länder regte an, zu untersuchen, was es mit „Verlegungen“ von Kinderdorf-Kindern ins Ausland auf sich hatte, welche Rolle Kinderdorf Österreich und seine Mitarbeiter in „Fällen von täterorganisierten Reisen“ gespielt haben und ob es sich dabei um „Menschenhandel“ handelte (siehe Faksimile unten). 

Screenshot aus dem ISC-Bericht

Bekannt ist ja, dass ein Jugendlicher aus Nepal in das Haus des Großspenders nach Niederösterreich gebracht wurde und dort drei Wochen gewohnt hat. Der ISC-Bericht legt nahe, dass es sich hierbei nicht um einen Einzelfall handelt, ist doch die Rede von „mutmaßlichen Fällen“ – Mehrzahl.

Ausbildung als "Entschädigung" oder zur Vertuschung?

Die ISC lenkt den Blick auf ein weiteres mögliches Problemfeld, das bislang unbeleuchtet geblieben ist: Ausbildungsprogramme von SOS-Kinderdorf, bei denen Jugendliche aus ihrer Heimat in andere Länder gebracht werden – unter anderem nach Österreich. Kritisiert wird, dass es innerhalb der Organisation keinen Überblick über die Verlegungen von „potenziell Hunderten Kindern“ gibt. Man habe echte Sorge um deren Sicherheit. 

Auch hierzu werden Untersuchungen angeregt – und ein weiterer, schlimmer Verdacht geäußert: Es gäbe Berichte, wonach Ausbildungen im Ausland gewährt worden seien, um Missbrauchsfälle zu vertuschen „und/oder um Opfer von Kindesmissbrauch (einschließlich sexuellem Missbrauch) zu entschädigen.“

Der Dachverband hat am Donnerstag übrigens eine außerordentliche Generalversammlung abgehalten. Thema waren offiziell die Mitgliedsbeiträge, inoffiziell wurde auch über die aktuelle Krise gesprochen. Österreich ist im Verband derzeit suspendiert – und durfte nur zuhören.

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