So kann Kurz die Politik vom Nationalrat aus steuern
Wie wird der neue koalitionäre Alltag aussehen? Kann die Koalition aus ÖVP und Grünen das tiefe Zerwürfnis wegstecken?
Offiziell ist die Regierungskrise beigelegt, Vizekanzler Werner Kogler lobt sein "vertiefendes, einstündiges Gespräch" mit dem designierten Bundeskanzler Alexander Schallenberg. Der angehende Ex-Kanzler Sebastian Kurz signalisiert, dass er den Ministerratssitzungen fernbleiben werde, der bisherige Klubobmann August Wöginger, der geschäftsführender Klubobmann bleibt; er wird die Rolle in der Koordinierung der Koalition weiter wahrnehmen.
Auch wird Kurz wohl nicht mit Sigrid Maurer um Gesetzes-Formulierungen feilschen oder mit der Opposition über die Tagesordnung von Plenarsitzungen verhandeln. Schon gar nicht ist vorstellbar, dass Kurz an Gesprächen über die Einsetzung eines neuen Untersuchungsausschusses über seine eigene Amtszeit teilnimmt.
Und dennoch: Die Politik-Experten stimmen überein, dass Kurz "Schattenkanzler" bleiben werde. Und so konnte das gehen:
Tatsächlich ist der Chefsessel im Nationalratsklub eine zentrale Machtposition: Regierungsbeschlüsse von großer Tragweite müssen in der Regel durchs Parlament. Hinzu kommt, dass in der Regierung lauter Minister sitzen, die Kurz ihr Amt verdanken. Sowohl aus formalen wie auch aus gruppendynamischen Gründen wandert also alles Wesentliche über den Schreibtisch von Sebastian Kurz (sofern er das verlangt).
Außerdem bleibt er ÖVP-Obmann und hält die Kontakte zu den wichtigen ÖVP-Playern, den Landeshauptleuten und Bündeobleuten. In beiden Funktionen, als Klubobmann und Bundesparteiobmann, ist er sozusagen auch "Chef" der Abgeordneten, die ihn ab nun in Tuchfühlung im Parlament haben.
Die Auslandsbühne, die Kurz gern für die innenpolitische Imagepolitur nutzt, steht Kurz weiterhin offen. Er kann an den Treffen der Europäischen Volkspartei vor den EU-Räten teilnehmen oder auch als Parlamentarier Reisen unternehmen. Kurz hat dies nach seiner Abwahl 2019 durch das Parlament bereits vorexerziert.
In anderen Worten: Es hängt von Kurz ab, wie er seine künftige Rolle anlegt. Wenn er es will, steht ihm der volle Aktionsradius an Einfluss und öffentlicher Bühne zur Verfügung.
Für die Grünen heißt das nichts Gutes, zumindest im Moment der Emotion. Dem Vernehmen nach soll Kurz auf die Grünen megasauer sein. Motto: Ohne ihn wären sie nicht in der Regierung, und nun stellen sie ihm den Kanzlersessel vor die Tür, obwohl er versichere, dass er strafrechtlich unschuldig sei.
Tatsächlich wird in der ÖVP das Vorgehen der Grünen als Vertrauensbruch gewertet, und es wird bezweifelt, ob das Verhältnis zu kitten ist. Mögen haben sich Türkis und Grün sowieso nie. Der schwarze Landeshauptmann von Vorarlberg, Markus Wallner, dem man diesbezüglich keine Aversionen unterstellen kann, kritisiert in der Neuen Vorarlberger Tageszeitung die Grünen, weil sie „eine Sache binnen weniger Stunden öffentlich eskalieren“. Kurz habe mit seinem Schritt ermöglicht, dass die Regierung, insbesondere angesichts der Pandemie, weiterarbeiten könne. Aber für wie lange, das lässt Wallner bemerkenswerterweise offen: „Wie es sich in den nächsten Wochen, Monaten und darüber hinaus gestaltet, bleibt offen. Das muss immer wieder neu bewertet werden.“
Auch Schüssel ging einst in den Nationalrat
Eine ähnliche Situation gab es schon einmal. 2006 wechselte der damalige Bundeskanzler Wolfgang Schüssel nach seiner Wahlniederlage ins Parlament und wurde Klubobmann. Schüssels damaliges Koalitionsgegenüber, Josef Cap (SPÖ), erinnert sich: "Schüssel hat seine Wahlniederlage für einen Irrtum der Wähler gehalten und Tag und Nacht auf Revanche gegen SPÖ-Kanzler Alfred Gusenbauer hingearbeitet."
Als die SPÖ gemeinsam mit anderen Parteien Untersuchungsausschüsse zu den Themen Eurofighter und Banken einsetzte, habe Schüssel die laufenden Regierungsverhandlungen mit der SPÖ ausgesetzt, erinnert sich Cap. Schüssel hatte damals seinen engen Vertrauten Wilhelm Molterer als Vizekanzler in der Regierung mit der SPÖ. Molterer ließ die Koalition bei erstbester Gelegenheit platzen („Es reicht“). Cap: "Die heutige Situation mit Kurz und seinem Vertrauten Schallenberg als Platzhalter ist ähnlich. Es gibt aber einen großen Unterschied: Schüssel war nicht mit strafrechtlichen Vorwürfen konfrontiert."
Die Vorwürfe sind tatsächlich der springende Punkt für Kurz’ Zukunft. Politisch hat er die Konsequenzen gezogen. Bis zu einem Gerichtsurteil hat er das Recht auf die Unschuldsvermutung.
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