Kanzler-Rücktritt: Das Protokoll eines Abgangs
Ein Kanzler, der geht, eine Koalition, die wankt:
Wie kam es zur Eskalation in der türkis-grünen Koalition? Das Protokoll eines Rücktritts:
23. September 2021:
Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft beantragt Hausdurchsuchungen in Kanzleramt, Finanzministerium, der ÖVP-Zentrale, dem Medien-Unternehmen Österreich sowie Privatwohnungen von Mitarbeitern des Bundeskanzlers.
Mittwoch, 6. Oktober, 6 Uhr früh
Die Hausdurchsuchungen finden gleichzeitig an mehreren Orten statt. Während die Grünen „vollstes Vertrauen in die Justiz“ zeigen, gibt sich die ÖVP empört. Klubchef August Wöginger klagt über die „Unzahl an falschen Behauptungen“. Am Abend weist der Kanzler alle Vorhalte in einem 20-minütigen TV-Interview als falsch zurück.
Donnerstag, 10.02 Uhr:
Sigrid Maurer und Werner Kogler stellen die Handlungsfähigkeit des Kanzlers infrage. Es folgen Gespräche mit den Parlamentsparteien und dem Bundespräsidenten. Die Opposition beantragt eine Sondersitzung. Brisanter Tagesordnungspunkt: Misstrauensantrag gegen den Kanzler.
Freitag, 10.39 Uhr:
Die Grüne Klubchefin Sigrid Maurer legt nach: „Die ÖVP ist aufgerufen, eine untadelige Person (für den Kanzler) zu finden.“
Freitag, Nachmittag:
Kurz und seine Vertrauten telefonieren mit Vertretern der Landesparteien und der Bünde. Über die Atmosphäre wird Unterschiedliches berichtet. „Wir haben uns sehr aktiv eingebracht“, wird Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer später sagen. Gemeint: Nachdem am Freitag weitere Chats publik wurden, in denen die Landeshauptleute als „alte Deppen“ bezeichnet wurden, sind die Länder zunehmend der Meinung, die ÖVP müsse jedenfalls eine Konsequenz ziehen. Man ist sich einig, dass die Situation extrem vertrackt sei. Ein Kurz-Berater schildert ein Gespräch mit dem steirischen ÖVP-Chef. „Der Hermann hat gesagt ,Die Situation ist schlimm. Aber wenn Du, Sebastian, nicht mehr da bist, ist sie noch schlimmer – das kostet uns als ÖVP zehn Prozent.“ Am späten Nachmittag trifft ÖVP-Klubchef Wöginger noch einmal Kogler und Maurer. „Er ist ernüchtert zurückgekommen“, erzählt ein ÖVP-Stratege. Daraufhin ist klar: Die Grünen sind wild entschlossen, am Dienstag im Parlament abzuwählen.
18:11 Uhr:
Alexander Van der Bellen versucht zu kalmieren und erklärt, dass es sich um eine Regierungs-, nicht aber um eine Staatskrise handelt.
19.42 Uhr:
In einem kurzfristig angekündigten Auftritt erklärt Kurz, er sei „handlungsfähig und -willig“. Die Vorwürfe gegen ihn seien „schlicht und einfach falsch“.
20.01 Uhr:
Vizekanzler Kogler reagiert auf das Kanzler-Statement – und zwar mit einer Festlegung, die manche im Team Türkis später einen Beziehungsbruch nennen werden. Kogler sagt den denkwürdigen Satz: „Der jetzige Kanzler ist nicht mehr amtsfähig.“
20.15 Uhr:
Jetzt ist klar: Kurz wird gehen müssen. Kurz ruft seine Vertrauten zu sich ins Kanzleramt. Elisabeth Köstinger, Alexander Schallenberg, Karl Nehammer und Gernot Blümel sind mit von der Partie, man sucht bis nach Mitternacht nach einer Lösung. Jungvater Blümel verlässt etwas früher die Sitzung als die anderen.
Samstag, 3.10 Uhr früh:
Kurz schickt Schallenberg ein SMS: „Du wirst Kanzler.“
Samstag, tagsüber:
In einer Konferenzschaltung erklärt Kanzler Kurz den Landesparteiobleuten, dass er geht und Schallenberg kommt.
Die Hofburg weiß zu diesem Zeitpunkt nicht genau, was passiert.
19.47 Uhr:
Der Bundeskanzler erklärt seinen Rücktritt.
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