Pensionen, Gesundheit, Bildung: Wie schlecht ist die Lage in Österreich wirklich?

Als Bundeskanzler Christian Stocker vergangenen Montag im ORF-Sommergespräch erklärte, dass die Pensionen eher nicht in jener Höhe angehoben werden sollten, wie dies gesetzlich eigentlich vorgesehen ist, da brach er – gewollt oder nicht – gleich mit zwei „Grundregeln“, die in der politischen Kommunikation seit Jahren als „gesetzt“ zu gelten scheinen, nämlich: Vermeide schlechte Nachrichten. Und: Schone Österreichs Pensionisten.
Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe an unangenehmen Wahrheiten, die kaum bis gar nicht angesprochen werden.
Gerade in Zeiten knapper Budgets und lohnt oft der Blick zurück. Um zu wissen, wo zu lange zu wenig passiert ist – aber auch, wie sich Österreichs Lage in den vergangenen Jahrzehnten verbessert hat.
Der KURIER hat in Themenbereichen, die die breite Mehrheit betreffen und in denen der massivste Reformbedarf geortet wird – also insbesondere bei Fragen von Gesundheit, Pensionen und Bildung – recherchiert und einige unangenehme Wahrheiten zusammengetragen, die von der Politik nicht angesprochen werden, weil sie in großen Teilen der Bevölkerung und damit bei den Wählern verzerrt wahrgenommen werden. Welche sind das? Ein Überblick.
Pensionen: Tropfen auf dem heißen Stein
Für österreichische Verhältnisse kam Stockers Vorstoß fast einem Tabubruch gleich: Angesichts der dramatischen Lage der Staatsfinanzen dachte er zuletzt laut über eine Erhöhung der Pensionen deutlich unter dem an sich vorgesehenen Anpassungsfaktor von 2,7 Prozent nach. Am liebsten wären ihm überhaupt nur durchschnittlich zwei Prozent. Der Widerstand – auch seitens der ÖVP-Pensionistenvertreter – war so heftig wie erwartbar.
Dass schon diese Woche, wie medial kolportiert, eine konkrete Einigung über eine soziale Staffelung der Pensionserhöhung verkündet werden kann, wollte man am Wochenende seitens der Regierung nicht bestätigen. Bis dato wurde noch nicht einmal mit den Pensionistenvertretern gesprochen, betont man von deren Seite.

Eine solche Form der abgeschwächten Anpassung wäre freilich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Denn längst sollte Konsens darüber herrschen, dass viel weitgehendere Reformen notwendig sind, um das heimische Pensionssystem den immer schwieriger werdenden Rahmenbedingungen (geschuldet vor allem einer wachsenden Überalterung) anzupassen.
Die Maßnahmen, die die Dreierkoalition bis dato gesetzt hat – Schaffung einer „Teilpension“, Anhebung des Eintrittsalters für die Korridorpension – können nur ein erster Schritt sein, sind Experten überzeugt. Steigen doch die Gesamt-Pensionskosten von heuer 33 Milliarden Euro trotzdem bis 2029 weiter auf 38,3 Milliarden Euro, wie unlängst der wirtschaftsliberale Think Tank Agenda Austria errechnet hat. Ohne die zuletzt verkündeten Reformschritte wären sie mit 40,2 Milliarden Euro nur unwesentlich höher.
Was also tun? Im internationalen Vergleich fällt auf, dass in Österreich die staatlichen Ausgaben für die Pensionen vergleichsweise hoch und das Pensionsantrittsalter eher niedrig ist.
Als einen wichtigen Hebel sehen Ökonomen daher eine Koppelung von Pensionsantrittsalter und Lebenserwartung. Entsprechende Pensionsautomatiken gibt es bereits in anderen Ländern. Voraussetzung dafür ist es aber auch, Rahmenbedingungen zu schaffen, die das Arbeiten im Alter leichter möglich machen – woran es derzeit in der Praxis mangelt. Nachdenken wird die Politik auch über die Stärkung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge müssen.
Gesundheit: Das System ist besser, als man denkt
Am flachen Land fehlen Haus- und Fachärzte, wer in Ballungsgebieten ein CT oder MRT braucht, wartet lange – ganz zu schweigen von geplanten Eingriffen bei Knie, Hüfte und Ähnlichem: So lässt sich die gefühlte Gesundheitsversorgung in Österreich zusammenfassen. Zumindest bei Menschen ohne Zusatzversicherung.
Doch ist das so? Geht das Gesundheitssystem, wie es landläufig mitunter heißt, nachweislich vor die Hunde?
Belastbare Indikatoren der Versorgung sagen etwas anderes: Die Ärztedichte hat sich in den vergangenen Jahrzehnten massiv verbessert: Kam im Jahr 1960 auf 1.000 Menschen nur ein Arzt, sind es heute 5,5 Ärzte. Bei Erkrankungen wie COPD/Asthma und Diabetes sank die Zahl der Spitalsaufnahmen allein in den Jahren 2014 bis 2021 um die Hälfte. Und was die Akut- und Notarzt-Versorgung angeht, ist Österreich Weltspitze: Die Notarzt-Hubschrauber des ÖAMTC fliegen heute im Jahr mehr als 22.200 Einsätze, im Schnitt sind das 61 Flüge pro Tag. Das und vieles mehr führt dazu, dass die Lebenserwartung seit den 1990er-Jahren satte sieben Jahre (!) gestiegen ist.

Wie kann es nun sein, dass die Patienten zunehmend das Gefühl haben, nicht in einem der besten Gesundheitssysteme der Welt versichert zu sein?
Hier kommen die veränderte, weil deutlich höhere Erwartungshaltung der Patienten und auch die unglaubliche Spezialisierung bei Diagnostik und Therapien zum Tragen: Das Angebot an Institutionen und Ärzten ist so groß, dass viele Patienten völlig den Überblick verlieren und Termine und Ärzte buchen, die für sie nicht unbedingt nötig oder sinnvoll sind.
ÖGK-Chef Andreas Huss fordert seit Jahren, dass Patienten nicht weitgehend selbst entscheiden, welche Untersuchungen sie bei einzelnen Ärzten „einhängen“ bzw. beanspruchen. Stattdessen müsse das Gesundheitssystem wieder stärker auf den Haus- und Familienarzt setzen – er kenne Patienten, System und wisse, was an Arzt-Besuchen wirklich nötig ist.
Viele Untersuchungen sind überflüssig. Ein Beispiel: die CT- und MRT. In Österreich werden pro 1.000 Einwohner im Jahr 400 Untersuchungen gemacht, das ist Weltspitze. In Finnland sind es 100, in den Niederlanden und Dänemark 200 – und dennoch sind deren Versicherte im Schnitt gesünder als hierzulande.
Bildung ist nur teuer erkauftes Mittelmaß
Viele Eltern wissen es eben nicht besser. Nur ein Beispiel: Sie verwenden das Handy als „digitalen Schnuller“ und sind sich nicht bewusst, dass das langfristig schadet. Denn in den ersten Jahren wird der Grundstein gelegt: Wer seinem Kleinkind regelmäßig vorliest und mit ihm spricht, schafft hingegen die besten Voraussetzungen für erfolgreiche Bildungskarrieren.
Dazu kommt: In Österreich herrscht in einigen Milieus eine Art Vollkasko-Mentalität bei der Bildung – Eltern müssen nichts, Lehrkräfte alles vermitteln: Etwa, dass es Regeln gibt, oder auch Deutsch – Letzteres auch bei Familien, die schon in der vierten Generation hier leben.
Seit 15 Jahren gibt es das verpflichtende, letzte Kindergartenjahr für alle. Eigentlich sollte das reichen, um den Kindern die deutsche Sprache so weit vermitteln zu können, dass sie dem Unterricht folgen können. Das ist aber nicht der Fall. Regelmäßig, wohl auch heuer, stehen manche Volksschullehrerinnen (es gibt nur wenige männliche Volksschullehrer) erneut vor dem Problem, dass manche Sechsjährigen des Lesens und Schreibens mächtig sind, andere noch keinen Stift halten können. Und nun kommen jene dazu, die kaum ein Wort verstehen, was die Lehrerin sagt. Wer kann sich vorstellen, so zu unterrichten? Kindergärten, die solche Kinder entlassen, wurden bisher noch nie zur Verantwortung gezogen.

Das Sprachproblem durch Migranten, Flüchtlinge und Familienzuzug setzt sich in allen Schulstufen fort. Manche Wiener Bezirke haben Schülerpopulationen, wo 80 und mehr Prozent daheim kein Deutsch sprechen. Da würde auch eine Durchmischung der Schüler nicht helfen.
Wir haben keine Notenwahrheit – sonst gebe es keine Teenager mit 15 Jahren, die unsere Kulturtechniken nicht beherrschen. Der Schule wird jedes neue gesellschaftliche Problem umgehängt, obwohl der vielerorts schon lange nicht mehr erfüllt werden kann. Zeit fürs Lesenlernen geht so verloren. Und niemand hat eine Antwort, wie der Bildungsbereich auf die KI-Revolution antworten soll.
Unterm Strich ist das Ergebnis des Bildungssystems nur Mittelmaß – bei Bildungsausgaben von 26,1 Milliarden Euro. Investieren müsste man in Kindergärten, denn hier erzielt man die höchste Rendite. Dafür gibt Österreich aber im internationalen Vergleich wenig Geld aus.
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