"Wir müssen die Über-60-Jährigen an die Kandare nehmen"

Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer
Ernest Pichlbauer rechnet im „Milchbar“-Podcast des KURIER mit Österreichs Gesundheitssystem ab. Und er rechnet vor, wieso die freie Arztwahl zum Problem wird.

Vor 20 Jahren sei er angetreten, „um zu erklären, dass man zwischen Behandlung, Versorgung und Systemebene unterscheiden muss“. Dass seither etwas besser geworden ist, bezweifelt Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer und begründet im KURIER-Polit-Podcast „Milchbar“, warum.

Warum ist Österreichs Gesundheitssystem teuer, aber nicht unbedingt besser?

„Wir sehen die Auswirkungen der verfehlten Gesundheitspolitik seit Jahrzehnten. Das ist eine reines Ursache-Wirkung-Problem: Würden wir eine Verfassungsänderung hinkriegen, dann ginge es. Solange wir aber keine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament haben, um die Gesundheitsversorgung aus den 1920ern in die Moderne zu versetzen, wird es keine ernsthafte Reform geben.“ Die Fragmentierung des Systems werde seit 1969 kritisiert, so Pichlbauer, der auf eine Arbeitsgruppe unter Werner Faymann 2010 und eine Studie zur Effizienz der Sozialversicherungen 2017 unter Alois Stöger (beide SPÖ) verweist. „Und jetzt haben wir 2025 und die Fragmentierung bleibt erhalten.“

"Wir müssen die Über-60-Jährigen an die Kandare nehmen"

Welches Land könnte als Vorbild dienen?

„In der Akutversorgung wäre ich gerne in Österreich oder in Amerika. Zur Akut-Versorgung gehört zum Beispiel Krebs. In der Versorgung chronisch Kranker möchte ich weder in Amerika noch in Österreich sein, sondern wäre am liebsten in Schweden oder in England.“ Fest macht der Gesundheitsökonom dies an der Nachsorge von Krankheiten wie Diabetes. „Diese funktioniert bei uns nicht. Wir haben fünf Mal so viele Amputationen bei Diabetes wie die Briten, die ach so böse sind.“

FPÖ und ÖVP verhandelten über die Ambulanzgebühr. Ein probates Mittel zur Patientenlenkung?

„Nein. Es gibt immer zwei Tangenten bei Selbstbehalten: Die Finanzierungs- und die Steuerungstangente.“ Steuern würde eine Ambulanzgebühr nach Pichlbauers Dafürhalten erst ab einer Ambulanzgebühr in der Größenordnung von 100 Euro und ohne soziale Staffelung. „Doch das bekommen Sie politisch nicht durch. Wenn man heute sinnvoll steuern will, muss man sich Patientenpfade überlegen, das heiße Eisen der freien Arztwahl angreifen.“

Woran machen Sie fest, dass die freie Arztwahl die Ursache der Überlastung ist?

„Die freie Arztwahl ist so etwas wie die Lipizzaner oder die Neutralität. Das sind Dinge, die man nicht aufgibt.“ Pichlbauer bezieht sich auf Zahlen – rund 150 Millionen E-Card-Kontakte bei neun Millionen Einwohnern – und rechnet vor: „Wir gehen durchschnittlich 16 bis 18 Mal pro Jahr zu einem Arzt. Das ist drei bis vier Mal so viel wie in anderen High-Income-Ländern. Wir gehen elf Mal zum Allgemeinmediziner, sieben Mal zum Facharzt und vier Mal in die Spitalsambulanz.“

Sind wir kränker als andere?

„Würden wir tatsächlich so krank sein, dann müsste unsere Lebenserwartung bei 62 Jahren liegen und nicht bei 85. Also: Wir gehen einfach zum Arzt, weil wir wollen und das System gefälligst darauf zu reagieren hat.“ Das heimische System unterscheide, so Pichlbauer, nicht zwischen Bedarfen und Bedürfnissen. „Wenn Sie heute den Wunsch haben, zu einem Facharzt zu gehen, obwohl es offiziell nach allgemeinen Kriterien dafür keinen Grund gibt, dann ist es ein Bedürfnis und kein Bedarf.“ In einem solidarischen wie öffentlich-finanzierten Gesundheitssystem müsste der „Bedarf gedeckt werden und nicht die Bedürfnisse.“ Er habe als Arzt erlebt, dass um 3 Uhr morgens eine nervöse Mutter mit einer Gelse im Glas und ihrem schlafenden Kind im Arm einen serologischen Test erbat, um festzustellen, „ob es sich um keine Tsetse-Fliege handelt und das Kind unter der Schlafkrankheit leidet“.

Könnten, wie diskutiert, höhere Sozialversicherungsbeiträge Menschen vom Rauchen oder fett Essen abhalten?

„Nein. Wir funktionieren über Anreize. Wunderschön sieht man das am  Mutter-Kind-Pass. Als die Zahlungen aufgehört haben, hatten wir einen riesigen Abfall bei der Zahl der Untersuchungen.“ Seit die Vorsorge an die Kinderbeihilfe gekoppelt ist, sei man wieder auf einem normalen Niveau, doch: „Jede Energie, die wir heute in die gesunde Erziehung stecken, klingt zwar toll, weil wir die Krankheiten der Zukunft vermeiden. Es wird nur keine Zukunft geben, wenn das System kollabiert ist  wegen der größten Wählerschicht.“ 

Die Pensionisten stellen ein Problem dar?

Die chronischen wie die zu erwartenden Erkrankungen der Baby-Boomer-Generation seien ein essenzielles Problem, so Pichlbauer. „Wir müssen die Über-60-Jährigen an die Kandare nehmen.“ Diese müssten „Profis ihrer eigene Gesundheit werden und nicht mit jedem Wehwehchen zu einem Facharzt laufen“. Dies helfe dem Gesundheitssystem mehr, als Zwölfjährige zu zwingen, einen Apfel zu essen.

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