Muslimischer Antisemitismus: "Diese Weltbilder sitzen tief"
Freitagabend vor Weihnachten, der 17-jährige Karim* vertreibt sich die Zeit mit seinem Smartphone und einem Kumpel vor der Burritos-Bar im Shopping-Center Millenium-City. Wenn man ihn über Religion fragt, antwortet er, sie sei für ihn sehr wichtig. "Ich habe mich mit anderen Religionen auseinandergesetzt, und ich weiß, dass meine die richtige ist", sagt Karim, schlaksige Figur, schwarzer Wuschelkopf. Karim ist Moslem, seine Eltern kommen aus Tunesien.
"Die katholische Kirche will nur reicher werden, der Papst frisst ja Gold zum Frühstück“, sagt Karim und lacht. Wenn man ihn zum Judentum befragt, wird er ernster. "Was gerade in Jerusalem passiert, ist nicht prickelnd, weil diese jüdischen Zionisten, oder wie das heißt, Menschen töten. Ich glaube, das hat aber nichts mit dem Judentum zu tun, vielleicht ein bisschen, ich weiß es nicht."
Offener Antisemitismus auf der Straße
Der junge Karim schwankt noch, einige Muslime vermengen laut Studien allerdings ihre Israel-Kritik mit genereller Judenfeindlichkeit. Seit der Flüchtlingskrise von 2015 köchelt in Österreich und Deutschland die Diskussion, ob es unter geflüchteten und auch schon lange hier lebenden Muslimen einen neuen Antisemitismus gebe, der vielleicht gefährlicher als jener in rechten Kreisen ist. Nach dem US-Vorstoß, Jerusalem offiziell als Hauptstadt Israels anzuerkennen, und den pro-palästinensischen Demonstrationen in Wien, Berlin und anderen Städten sorgen sich Juden in Österreich nun auch öffentlich um ihre Sicherheit.
Bei einer pro-palästinensischen Demo mit 400 Teilnehmern am 8. Dezember vor der US-Botschaft in Wien-Alsergrund sollen auch Sprechchöre wie "Tod den Juden" gefallen sein. Ein Teilnehmer dementiert das im Gespräch mit dem KURIER entschieden. Dokumentiert ist in jedem Fall ein Plakat mit Davidstern und eingezeichnetem Hakenkreuz. Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit jener der Nazis definiert die International Holocaust Remembrance Alliance als klar antisemitisch.
Eine umfassende Studie zu Antisemitismus in Österreich, sowohl unter Muslimen als auch unter der christlichen Mehrheitsbevölkerung, gibt es nicht. Allerdings findet man Hinweise darauf, dass muslimischer Antisemitismus nicht unterschätzt werden darf. In einer heuer veröffentlichten Studie der Pädagogischen Hochschule Wien über autoritäre Tendenzen von Lehrlingen sagten zum Beispiel 48 Prozent der muslimischen Berufsschüler, "dass Juden in Österreich zu viel Einfluss haben".
In arabischer Welt gilt Israel als der Feind
In einer anderen Studie, die im Umfeld der Wiener Jugendzentren entstand, heißt es im Kapitel "Religionsbegründete Abwertungen“, bei muslimischen Jugendlichen sei Antisemitismus signifikant stärker zu beobachten als bei christlich geprägten. 47 Prozent der muslimischen Jugendlichen hatten eine leicht negative oder sehr negative Einstellung zu Juden.
Soziologe Kenan Güngör, Studienleiter der im Jahr 2016 publizierten Forschungsarbeit über die Jugendzentren, warnt dennoch eindringlich davor, Muslime mit autoritärem und antisemitischem Gedankengut einfach in die Ecke zu stellen. In der islamisch-arabischen Welt herrsche ein anderes gesellschaftliches Narrativ: Im Fernsehen, in Schulbüchern und natürlich in den Sozialen Medien werde Israel als Feind und als "Speerspitze des westlichen und amerikanischen Imperialismus" dargestellt. Zu Flüchtlingen aus dem Nahen Osten meint Güngör: "Man kann den Menschen das nicht vorwerfen, wenn das dort das normale Weltbild ist. Diese Weltbilder sitzen tief." Der Palästina-Konflikt habe in der Region eine unglaublich hohe symbolische Bedeutung.
Rechte Parteien instrumentalisieren das Problem
Experten fordern schon lange verstärkte Anstrengungen in der Bildung, um Antisemitismus bei Jugendlichen entgegenzuwirken. Erstens müssten Berufsschulen in den Fokus rücken, zweitens muslimische Schüler gezielter angesprochen werden. Die Lehrer sollten nicht beim europäischen Holocaust aufhören, sondern müssten auch den Antisemitismus im Nahen Osten berücksichtigen. "In Österreich ist ein Bewusstsein für die Verbrechen gegen die Juden hoffentlich selbstverständlich. Dieses kollektive Gedächtnis findet sich in der islamisch-arabischen Welt nicht", sagt Güngör. Seine Forderung: "Die Menschen brauchen Begegnungen in positiven Kontexten."
FPÖ-Obmann und Vizekanzler Heinz-Christian Strache hat seine Partei in den vergangenen Jahren auf einen demonstrativ pro-israelischen Kurs geführt. Ohne die FPÖ explizit zu nennen, weist Güngör darauf hin, dass "Rechtsextreme und Rechtspopulisten in ganz Europa gerade eine Schuldübertragung machen, indem sie den Antisemitismus anderen vorwerfen". Man könne Tatsachen für falsche Zwecke instrumentalisieren, sagt Güngör: "Man kann mit der Wahrheit lügen.“
Viele Juden wollen nicht mehr erkannt werden
Der junge Rabbiner Lior Bar-Ami empfängt den KURIER in seinem Büro in Wien-Leopoldstadt. Seit rund einem Jahr arbeitet der 31-jährige gebürtige Deutsche in der liberalen Gemeinde Or Chadasch. Auch er mache sich Sorgen wegen des muslimischen Antisemitismus, zugleich sagt er: "Der muslimische Antisemitismus beruht auf einem anderen Narrativ als der europäische. Wir können ihn aber nicht allein durch einen politischen Dialog aufarbeiten, sondern brauchen auch einen individuellen Dialog. Begegnung ist alles."
Eher beiläufig erzählt Bar-Ami, dass er bereits 2012 für sich entschieden habe, bei alltäglichen Erledigungen keine Kippa mehr zu tragen. Damals wurde ein Rabbiner in Berlin von Jugendlichen auf offener Straße zusammengeschlagen.
Ramazan Demir arbeitet in Wien als Imam und Gefängnisseelsorger und bildet islamische Religionslehrer aus. Mit seiner Reise nach Jerusalem mit dem Rabbiner Schlomo Hofmeister und dem katholischen Pfarrer Ferenc Simon hat er 2016 über theologische Kreise hinaus ein Signal der Versöhnung gesetzt. "Wir haben leider auch unter muslimischen Jugendlichen Problemfälle", räumt Demir ein. "Wir Religionslehrer müssen ihnen mitgeben, dass Antisemitismus keinen Platz im Islam hat." Religionspädagogen hätten eine kraftvolle Position. "Diese Jugendlichen, die Antisemiten sind, haben theologisch wirklich keine Ahnung. Man muss mit ihnen reden und die Aufklärung fördern", sagt Demir. Zugleich sei er überzeugt, dass der Anteil antisemitischer Muslime nicht höher sei als unter anderen Österreichern.
Rechter Antisemitismus weiter vorhanden
Wie konkret die Gefahr für Juden durch muslimischen Antisemitismus ist, lässt sich schwer sagen. Im Verfassungsschutzbericht 2016 des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung wurden 41 antisemitisch motivierte (und auch 28 islamophob motivierte) Tathandlungen festgestellt. Strafbare Handlungen aus islamistischem Antisemitismus seien keine verzeichnet worden, sagt Innenministeriums-Sprecher Karl-Heinz Grundböck: "Das heißt aber nicht, dass es das Phänomen nicht gibt. Wir beobachten das aufmerksam."
Seit einigen Jahren veröffentlicht der Verein "Forum gegen Antisemitismus" (FGA) auch einen jährlichen Bericht, in dem judenfeindliche Beschimpfungen, Vandalismus, tätliche Angriffe, Drohbriefe und Postings in Sozialen Medien protokolliert werden. 477 Vorfälle wurden dem Verein im Jahr 2016 gemeldet, wobei nur vier von zehn ideologisch zuordenbar waren: 68 Prozent davon seien rechtsextrem, 22 Prozent islamistisch und zehn Prozent linksextrem motiviert gewesen, heißt es im Antisemitismus-Bericht 2016. "Wir gehen von einer sehr hohen Dunkelziffer aus", sagt FGA-Sprecherin Amber Weinber.
"Lebensbedrohende" Entwicklung
Man müsse die Ehrlichkeit haben zu benennen, "wo wirklich die Gefahr ist", sagt der jüdische ÖVP-Abgeordnete Martin Engelberg zum KURIER und meint damit den muslimischen Antisemitismus. Auch sollte unterschieden werden "zwischen dem, was in Foren gegen Juden, Ausländer, Frauen oder Radfahrer gepostet wird, und gefährlichen Aktionen wie tätlichen Angriffen", findet Engelberg. Zur Frage, warum er als ÖVP-Abgeordneter die türkis-blaue Bundesregierung unterstütze, appelliert Engelberg, die Koalition an ihren Taten zu messen. "Man sollte anerkennen, dass diese Bundesregierung in ihrer Regierungserklärung ein deutliches Statement gegen Antisemitismus abgegeben hat", sagt Engelberg.
Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), Oskar Deutsch, hat kürzlich im KURIER eine Häufung antisemitischer Parolen von muslimischer Seite beklagt. Sein Vorgänger als IKG-Präsident, Ariel Muzicant, nannte den islamistisch motivierten Antisemitismus sogar "lebensbedrohend und eine Gefahr für ganz Europa, nicht nur für Juden".
Mehr Begegnung, mehr Verständnis
Rabbiner Bar-Ami kann jenseits des Extremismus auch interreligiöse Projekte nennen, die Hoffnung machen. In Wien etwa den jüdischen Verein "Shalom Aleikum" (hebräisch-arabisch: Friede sei mit euch), der mehrheitlich muslimischen Flüchtlingen hilft. In Berlin gibt es die Initiative Salaam-Schalom, in der Juden und Muslime ihre Gemeinsamkeiten betonen.
Imam Demir sagt wie Bar-Ami, es brauche mehr Kontakt, davon gebe es zu wenig. "Ich glaube, da ist einfach auch die Proportion von rund 7000 Juden und 700.000 Muslimen ein Grund dafür. Wir brauchen ein Wir-Gefühl, mit dem wir gemeinsam das Problem des Antisemitismus angehen", meint Demir. Seitens der Muslime sei viel Interesse da, sagt der Imam.
* Name von der Redaktion geändert
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