MedUni-Chef Müller: "Zweiklassenmedizin ist offenbar gewollt"
Patienten klagen über lange Wartezeiten, Ärzte über Überlastung. Operationssäle stehen leer, weil es an Pflegekräften mangelt. Inzwischen reißt auch der Bevölkerung die Geduld: 84 Prozent fordern laut KURIER-OGM-Umfrage eine Gesundheitsreform. Der Rektor der MedUni Wien, Markus Müller, erklärt im KURIER-Interview, was zu tun wäre und spart nicht mit Kritik an der Politik, auch bei Corona.
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KURIER: Herr Professor, Österreich war immer stolz auf sein Gesundheitssystem. Sind wir noch Weltklasse?
Markus Müller: Wenn man sich international umsieht, läuft bei uns immer noch einiges richtig. Aber anders als früher haben wir auch in Österreich ein zunehmendes Spannungsfeld zwischen öffentlicher, versorgungswirksamer Medizin und ökonomisch erfolgreicher Medizin. Da ist etwas aus der Balance geraten.
Sie sprechen von privaten Wahlärzten, bei denen die Patienten zahlen, und von Kassenärzten, die die notwendige medizinische Versorgung sicherstellen sollen.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Es sind sich alle einig, dass man in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eine sehr gute Versorgung braucht, offenbar mehr denn je. Hier gibt es aber massive Lücken, vor allem in Wien. Andererseits haben wir um ein Vielfaches mehr plastische Chirurgen, als man für die öffentliche Versorgung brauchen würde. Das zeigt: Die ökonomische Attraktivität von bestimmten Fächern führt auf einer Seite zu Versorgungslücken und auf der anderen zu Versorgungsüberschuss.
Es gibt einen Ärzteabfluss vom öffentlichen in den privaten Sektor. Wie kann man da gegensteuern?
Das Zauberwort seit Jahrzehnten heißt „Gesundheitsreform“. Es ist wie bei einem riesigen Tanker: Der fährt zwar relativ stabil dahin, aber auf lange Sicht kann auch eine geringe Abweichung zu einem großen Problem werden. Und da sind wir angelangt. Wegen Jahrzehnte langer Versäumnisse haben wir jetzt ein Problem.
Wo soll man also ansetzen?
Wir haben über die Jahrzehnte ein sehr krankenhauslastiges System aufgebaut, man hat mit Spitälern Strukturpolitik gemacht. Das war dann irgendwann nicht mehr leistbar. Aber das wieder zurückzuschrauben, ist nicht einfach. Beispiel AKH: Wir hatten hier die Situation, dass sich Patienten selber in eine Universitätsklinik einweisen konnten. Ausländische Gäste finden das immer faszinierend, dass das AKH eine eigene U-Bahnstation hat. Das zeigt, dass die Patientenströme hier selbstgeleitet sind, und wir lange in einem der teuersten Spitäler Österreichs Fälle hatten, wo man sich fragt, wozu diese Patienten auf einer Uni-Klinik betreut werden müssen. Inzwischen versuchen wir, das Problem zu lösen, indem wir mit dem Ärztefunkdienst eine Stelle vorschalten. Es wird versucht, zu filtern, ob jemand eine intensive Versorgung benötigt oder nur eine Bindehautentzündung hat. Letzterem wird geraten, zum niedergelassenen Arzt zu gehen.
Manche Ärztevertreter fordern zur Abschreckung eine neue Ambulanzgebühr. Sind Sie auch dafür?
Das Experiment Ambulanzgebühr wurde bereits 2001 gemacht und unter anderem aufgrund des hohen administrativen Aufwands wieder beendet.
Es sind sich ja alle einig, dass das Spital die teuerste Versorgung ist, und dass man Patienten möglichst zum Kassenarzt leiten sollte. Aber gerade dieser Bereich hat immer mehr Lücken, Hausärzte sind überlastet, Notdienste in der Nacht und am Wochenende fallen aus.
Genau.
Muss man also, um Spitäler zu entlasten, zuerst den extramuralen Bereich zum Funktionieren bringen?
Der Terminus heißt Best Point of Care für meine Erkrankung. Darüber hat man sich zu wenige Gedanken gemacht. Es fehlt die Gesamtschau im Gesundheitssystem.
ÖGK-Präsident Huss schlägt vor, Wahlärzte in die Notdiensträder einzubeziehen, damit die Leute zu Randzeiten nicht ins Spital müssen.
Das sind alles Dinge, worüber man nachdenken sollte. Es gibt offensichtlich eine falsche Anreizsteuerung. Ein Kassenarzt bekommt für einen Hausbesuch 50 Euro brutto. Das ist absurd, aber offensichtlich ein gewolltes Signal. Das Wahlarztsystem ist ein Co-Payment-System, da bekommt der Patient 80 Prozent ersetzt, aber 20 Prozent zahlt er dazu. Wenn das Co-Payment-System quantitativ sogar größer ist als das Kassenarztsystem, dann verschiebt man Kosten vom öffentlichen Sektor ins Private. Das ist so unter der Hand passiert, es wird nicht viel darüber geredet. Wir behaupten zwar immer, in Österreich bekommt jeder um dasselbe Geld dieselbe Leistung, aber man hat bereits mehrere Klassen der Medizin geschaffen.
Mit den Wahlärzten wurde de facto ein Selbstbehalt eingeführt, ohne es auszuschildern, und wissend, dass sich manche das nicht leisten können. Würden Sie sagen, dies ist eine klassische Zweiklassenmedizin?
Absolut. Und es ist am Ende des Tages unsozial. Die Frage lautet: Wollen wir das? Meine Antwort ist: Offenbar ist es gewollt, denn sonst würde man nicht zulassen, dass in großem Ausmaß dazu gezahlt wird von Bürgern, die ohnehin nicht wenig ins System einzahlen.
Was sind Ihre Verbesserungsvorschläge?
Viele Kassenordinationen funktionieren derzeit auf dem System „Drei Minuten pro Patient“. Drei Minuten für ein Rezept oder eine Einweisung ins Spital. Ich höre von jungen Ärzten immer wieder, das sei nicht das, was sie sich von ihrem Beruf vorstellen. In den Spitälern werden die jungen Ärzte oft ausgenutzt, um administrative Arbeit zu machen, und nicht ihrer Qualifikation entsprechend eingesetzt. Und bei den Pflegekräften scheint mir die Gehaltsstruktur gering – auch das ist ein Signal, das bedeutet: So wichtig ist es uns mit den Pflegekräften nicht. Es ist wie beim russischen Gas: Wir leben billig, solange es funktioniert. Aber wenn uns die Pflege tatsächlich einmal wegbricht, wird es sehr teuer werden, das wieder aufzubauen.
Beim Finanzausgleich bemüht man sich gerade wieder um eine Gesundheitsreform. Wird da was herauskommen?
Schwer zu sagen. Im Moment reden zwar alle Player miteinander, aber die Sorge ist, dass am Ende rauskommt, dass alle nur mehr Geld wollen. Am Ende wird es teuer, ohne dass eine große Reform passiert.
Halten Sie das System für reformierbar?
Ich hoffe es, habe aber in acht Jahren als Rektor acht Gesundheitsminister erlebt. Ich habe jeden getroffen, viel Erfolg gewünscht, und viel weiter bin ich nicht gekommen, denn dann war schon der nächste da. Auch das sagt etwas aus über den Stellenwert von Gesundheitspolitik.
Wagen wir einen Blick in die Zukunft, wie wird sich künstliche Intelligenz in der Medizin auswirken?
Das öffentliche Bild eines Arztes ist nicht mehr zeitgemäß. Die Schwarzwaldklinik, der Bergdoktor, der Einzelkämpfer, der alles im Griff hat – das ist eine romantische Verklärung. Das Arztbild hat sich sehr gewandelt, und es wird sich noch dramatischer ändern. In der Medizin passieren aktuell mehrere Revolutionen gleichzeitig, zum Beispiel über künstliche Intelligenz. Man wird Unmengen Daten über einen Menschen haben, die man nur mithilfe der Technik aufarbeiten kann. Medizin wird noch mehr im technischen Umfeld stattfinden. Die Versorgungsqualität wird dadurch besser, das sieht man bereits am Beispiel Diabetes, wo vieles über das Handy läuft. Wir können uns gar nicht vorstellen, was sich in den nächsten Jahrzehnten alles verändern wird. Die Hoffnung ist, dass durch die neuen Methoden Ärzte befreit werden und mehr Zeit als heute für die Patienten haben.
Würden Sie ein Beispiel nennen?
Es sind Cholesterinsenker in Spritzenform in Entwicklung, man wird möglicherweise das Krankheitsbild Arteriosklerose bald nicht mehr so sehen wie jetzt. Heute ist es eine Top-1-Krankheit. Wenn so eine Krankheit in Zukunft massiv reduziert wird, wird viel Kapazität frei.
Aus den USA kommt gerade riesige anti-wissenschaftliche Welle auf uns zu. Da sind wir bei Corona. Müssen wir uns versöhnen? Bei jemandem entschuldigen?
Ich wüsste nicht, wer sich konkret entschuldigen soll, weil ich nie persönlich erlebt habe, dass jemand etwas absichtlich falsch gemacht hätte. Gegensteuern war richtig und war auch akzeptiert. Am ersten Lockdown 2020 gibt es nach wie vor wenig Kritik. Aber ab Frühsommer 2020 war Corona keine ausschließlich medizinische Frage mehr, da haben Politik und Medien gesehen, dass man die Energie dieses Themas nutzen kann. Da traten je nach Phase auch Verharmloser und Hysteriker in den Vordergrund.
Wurden von der Impfung falsche Erwartungen geweckt? Hätte man besser erklären müssen, dass sie nur wie eine Grippeimpfung wirkt und nicht den absoluten Schutz etwa einer Masernimpfung bietet?
In Deutschland kommunizierten eher Experten, in den USA vor allem Anthony Fauci. Von der Kommunikationsform wäre mir das am sympathischsten gewesen. Impfung ist ein Vertrauensthema, und ein Politiker ist nicht geschult, das professionell zu erzählen. Da sind schwere Schnitzer, kommunikative Fehler passiert. Jeder suchte sich dann Experten raus, die sagten, was einem am besten liegt. Das war eine Kakophonie ohnegleichen.
Wer wäre Ihrer Meinung nach der österreichische Fauci gewesen?
Elisabeth Puchhammer oder, auch aufgrund der verfügbaren Zeit im Ruhestand, Herwig Kollaritsch.
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