Ex-Kanzler Nehammer über Kickl als Sokrates und große Katastrophen

Karl Nehammer im Frühjahr 2025
Ex-Kanzler Karl Nehammer zieht in Buchform Bilanz über seine Regierungszeit: Was eskalierte und wer irritierte.

Er war Informationsoffizier, "mehr General denn Sekretär" der Volkspartei (Copyright Sebastian Kurz), Innenminister (2019-2021) und 1.132 Tage lang Bundeskanzler der türkis-grünen Regierung ehe er im Jänner diesen Jahres den "selbstbestimmten Abgang" wählt, weil er "sich selbst treu bleiben" will, wie er buchtitelgebend schreibt. 

Karl Nehammer hat - ähnlich wie seine jüngsten Vorgänger im Amt (Christian Kern oder Sebastian Kurz) - seine Zeit im Bundeskanzleramt verschriftlicht. 

Mahrer, Plakolm, Nehammer, Edtstadler, Stocker, Wöginger

SONDIERUNGSGESPRÄCHE ZWISCHEN ÖVP, SPÖ UND NEOS: MAHRER / PLAKOLM / NEHAMMER / EDTSTADLER / STOCKER / WÖGINGER

Auf rund 200 Seiten erzählt er seine Geschichte gleichsam im Rückwärtsgang,  beginnend mit seinem Rücktritt von der ÖVP- und Regierungs-Spitze, der retrospektiv weiter weg erscheint als der 4. Jänner 2025. 

Nehammer schreibt über "heftige Diskussionen" und darüber, dass sich "Volkspartei und Neos vehement gegen neue Steuern wehren, vor allem Eigentums- und Erbschaftssteuern. Für mich ist beides keine Lösung."  

Er müsse sich treu bleiben, sein Wahlversprechen halten und es - nachdem die Neos aus den Dreierverhandlungen aussteigen - mit der SPÖ probieren, doch: "Es dauert nur diesen Tag, um festzustellen: Mit dieser SPÖ, mit diesen Forderungen, mit dieser fehlenden Bereitschaft zum Kompromiss wird das nichts werden". 

Jedenfalls nicht mit ihm. Bekanntlich finden sich ÖVP, SPÖ und Neos nach seinem Rücktritt und gescheiterten Regierungsverhandlungen zwischen der FPÖ und der von Christian Stocker geführten ÖVP und bilden seit März 2025 die erste Dreierkoalition Österreichs

Press statement after coalition talks in Vienna

Andreas Babler, Karl Nehammer, Beate Meinl-Reisinger

Das "Political Animal", als das sich der 52-jährige versteht, arbeitet seit dem 1. September 2025 als einer der Vizepräsidenten der Europäischen Investitionsbank (EIB)

Wer eine Autobiografie oder gar Abrechnung erwartet wie einst von ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner, der geht fehl. Vielmehr handelt es sich um ein "Plädoyer für den Wert der Demokratie und eine Analyse der gegenwärtigen politischen Entwicklungen in Österreich", wie es im Klappentext heißt. Ein Buch das weitgehend ohne Name-Dropping und Schlüsselloch-Perspektive auskommt.

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Katharina und Karl Nehammer im Sommer 2025

Persönliche Einblicke gewährt Nehammer darin stets nur kurz und immer, um aktuelle Geschehnisse seiner Amtszeit zum Anlass zu nehmen, um sie in einen größeren Kontext zu betten. 

So geht es in zwölf Kapiteln um Asyl, Budget, Corona über die Beziehung Österreich-Israel bis hin zu seinem Besuch bei Wladimir Putin im Frühjahr 2022. ("Hat mein Treffen genutzt? Augenscheinlich nicht, denn Russlands Angriffe auf die Ukraine sind unvermindert weitergegangen… Es war von vornherein klar, dass Putin keine 180-Grad Wende hinlegen würde, weil ihm ein österreichischer Bundeskanzler aus erster Hand von den Kriegsgräuel in Butscha und den Kriegsopfern auf beiden Seiten berichtet.“)

Russlands Präsident Wladimir Putin

Russlands Präsident Wladimir Putin

So schildert er seine Jugend in einem politischen Elternhaus, einen Berlin-Besuch nach dem Fall der Mauer 1989 mit dem jüngeren Brüder und sein späteres Nachhausekommen als Bundeskanzler. "Mein Tag endet nicht mit dem letzten politischen Termin, sondern oft auch mit intensiven, politischen Diskussionen, wenn ich nach Hause komme und wie den Tag Revue passieren lassen. Damals wie heute schätze ich das politische Gespür und den Rat meiner Frau.“ 

Private Facetten wie diese kennt man auch und bereits aus seinem Podcast "Karl, wie geht's?".

Gemeinhin bekannt ist des Ex-Kanzlers Haltung zur Neutralität ("Nach innen sehe ich wiederum den Auftrag der Politik, der Bevölkerung zu erklären, dass uns die Neutralität per se nicht schützt. Sie basiert auf einem völkerrechtlichen Vertrag, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Wenn ein Angfreifer diesen Vertrag nicht akzeptiert, kann der neutrale Status allein einen Staat nicht schützen.") oder Haltung zu Israel. ("Die Zeit meiner Kanzlerschaft wurde außenpolitisch von zwei großen Katastrophen geprägt: vom Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine und dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel.")

GEDENKVERANSTALTUNG IN DER KZ-GEDENKSTÄTTE MAUTHAUSEN

Nehammer, Jair Lapid, Alexander Schallenberg - KZ Mauthausen

Als einen seiner bewegendsten Momente beschreibt Nehammer seine Begegnungen mit der Hamas-Geisel Tal Shoham und mit Jair Lapid, von 2021 bis 2022 Außenminister, dann Ministerpräsident Israels. Nebst der zwischen Israel und Österreich geschlossenen strategischen Partnerschaft bleibt ihm insbesondere das Gedenken in Mauthausen in Erinnerung und Lapids Worte. "Die Nazis glaubten, dass sie die Zukunft wären und dass man die Juden nur noch im Museum finden würde. Stattdessen ist der jüdische Staat die Zukunft und Mauthausen ein Museum.“

NATIONALRAT: NEHAMMER / BRUNNER

Karl Nehammer, Finanzminister Magnus Brunner

Neu ist die Rückschau auf die "Koste es, was es wolle"-Politik der türkis-grünen Koalition, der er erst als Innenminister, dann als Kanzler angehörte. "Aus heutiger Sicht hätten stärkere Preisdeckel" eingezogen gehört, gesteht Nehammer ein. Und: "Es war nie von einer Rezession, sondern immer von einem Wirtschaftswachstum, einem Plus von 1 bis 1,2 Prozent die Rede gewesen.“  Die "Gießkanne" sei denn auch eine Empfehlung der Experten gewesen, denn für individuelle Anträge hätte das Finanzministerium "800 neue Leute einstellen" müssen.

"Es war nie von einer Rezession die Rede"

"Tatsächlich ist die österreichische Wirtschaft - entgegen allen Voraussagen unserer Wirtschaftsforschungsinstitute - im Jahr 2023 um 1 Prozent und 2024 um 1,2 Prozent geschrumpft. Diese Fehleinschätzung führte zu 15 Milliarden Euro Einnahmenseinbußen im Budget, die das Defizit natürlich in die Höhe schnellen ließen." Man könne es sich einfach machen, so Nehammer, und "entgegen allen Prognosen - ausbleibende Wirtschaftswachstum der Politik, der Regierung, dem Bundeskanzler oder dem Finanzminister zuschreiben".

Der neu bestellte EIB-Vizevorstand befindet im Buch allerdings: "Geschenkt, es bringt uns nicht weiter. Denn Grundlage eines jeden Budgets sind nun einmal die Prognosen aus der Wirtschaftsforschung. Wenn sich diese als falsch herausstellen, die budgetierten Einnahmen ausbleiben und das Budgetdefizit steigt, könnte man meinen, man fokussiert den Blick auf das falsche Zahlenwerk aus der Forschung, analysiert die Fehler, um sie beim nächsten Mal zu vermeiden. Aber das Gegenteil passiert."

Karl Nehammer "Sich selbst treu bleiben"

Karl Nehammer: "Sich selbst treu bleiben", Ecowing Verlag, 208 Seiten, 26 Euro

Statt "Politik-Bashing" empfehle sich ein Blick in die Krisenjahre und Österreichs Abstieg in den Rankings in Relation zu den Jahren des Wachstums zu setzen.

Statt FPÖ-Chef Herbert Kickl zu mystifizieren, regt Nehammer, der sein Nachfolger als Innenminister war und ihn stets als "Sicherheitsrisiko" titulierte, an ihn als Teil eines "Radikalen-Phänomen" zu sehen, "wie man es auch bei der AfD mit Alice Weidel in Deutschland, Marine Le Pen in Frankreich, Geert Wilders in den Niederlanden und quer durch Europa, ja weltweit sieht". Es gehe, attestiert der Ex-Kanzler weiter, rechten wie linken Bewegungen "um Macht, nicht um Ideologie", um "Agitation gegen das System, gegen die Regierenden, gegen die da oben" und darum, sich nicht mehr auf klassische Medien einzulassen, sich einer radikalen Rhetorik zu bedienen, in seiner Weltsicht zu verharren.

Fest macht das Nehammer seitenweise anhand von Kickl und einem Telefonat, dass er als Kanzler mit FPÖ-Chef am 24. Februar 2022 führt. "Kickl äußert Zweifel daran, dass die Russen tatsächlich die Ukraine angreifen würden. ... Trotz aller Gesprächserfahrung mit ihm bin ich dann doch überrascht über den zynischen Unterton..."

Kickls zynischer Unterton

Er, Kickl, vermittle neuerlich das Bild einer "Person, die nicht in der Lage ist, zwischen der eigenen politischen Agitation und jenen Momenten im politischen Handeln zu unterscheiden, in denen es notwendig wäre, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen ..."

Karl Nehammer und Herbert Kickl

Karl Nehammer und Herbert Kickl

Der FPÖ-Chef interpretiere auch die "Apologie des Sokrates", die Nehammer seit seiner Schulzeit schätzt, gänzlich anders. Darauf zu sprechen gekommen seien beide im Rahmen der Sondierungsgespräche. Kickl sehe sich in der Rolle des Sokrates. "Kickls Lesart und seine Interpretation sind mir völlig fremd, bieten mir aber einen verstörenden Einblick in sein Denkgebäude. Mich fasziniert an der Apologie des Sokrates vor allem das Hinterfragen von Meinungen."

Nehammer beschließt das Kapitel wie jedes mit einer Art Appell. Da wir in Zeiten einer Empörungskultur leben würden, seien wir alle gefordert, deutlich zu machen dass eine "Eskalation der Sprache allein den radikalen Kräften nützt, aber der Demokratie schadet". Und Nehammer schließt das Buch noch mit einem privaten Einblick in Form eines Nachworts seiner Schwägerin Barbara Nidetzky, die ihn für das Cover fotografiert hat. 

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