Infektiologe Wenisch: "Omikron ist ein Weihnachtsgeschenk"
Das Bild mit Siegerfaust, mit der Infektiologe Christoph Wenisch seine erste CoV-Impfung begleitet hatte, ist um die Welt gegangen. Die New York Times wählte das Foto als Sinnbild für die Erleichterung, die vor einem Jahr herrschte.
Auch danach machte Wenisch Werbung für die Impfung – und erhielt deshalb auch Drohungen. Das Interview über ein bewegtes Jahr.
KURIER: Herr Wenisch, am 27. Dezember 2020 bekamen sie als einer der Ersten die Impfung. Welche Gedanken und Hoffnungen hatten Sie damals?
Christoph Wenisch: Ich fühlte mich wie beim Zieleinlauf nach einem Triathlon. Auf einen Triathlon bereitet man sich zwei bis drei Jahre vor, und am Wettkampftag holt man sich das Geschenk ab. Ein Jahr waren wir unter Beschuss der Viren. An diesem Tag hatte ich das Gefühl, jetzt ist „Game over“ für die Viren. Es war ein tolles Gefühl.
Aber das Gefühl hat wohl nicht lange gehalten. Wir stecken doch noch immer mitten in der Pandemie ...
Die Situation hat sich im Krankenhaus durch die Impfung verbessert. Seit alle Mitarbeiter auf der Station geimpft sind, gab es beim Personal keine Ansteckungen mehr.
Was nervt Sie persönlich am meisten an der Pandemie?
Ich versuche jeden Tag so zu nehmen, wie er ist. Wenn vier von fünf Kindern noch in die Schule gehen, dann belastet die Unsicherheit in der Schule natürlich das Familienleben. Was mich aber am meisten stört, ist der staatliche Eingriff ins Privatleben. Ich komme mir wie ein Objekthirte vor, wo man ohne Handy und QR-Code nichts mehr spontan unternehmen kann. Das ist schon sehr merkwürdig für mich. Damit habe ich große Probleme. Der Staat weiß eigentlich ständig, wo man gerade ist, und die Spielregeln, was als privat gilt und was nicht, haben sich geändert.
Sie haben fünf Kinder, die sechs, sieben, neun, 17 und 24 Jahre alt sind. Betrachten wir die Pandemie mal positiv: Was lernen Kinder in dieser Pandemie?
Die Volksschulkinder lernen, dass Eltern nicht für alles eine Erklärung haben und die Eltern unsicher sind. Die Kinder lernen auch, dass man aufeinander aufpassen muss und vor allem, dass Menschen sehr unterschiedlich auf Gefahren reagieren können. Eines meiner Kinder geht jeden Tag mit vier Pullis und einer Decke in die Schule, weil die Lehrerin sehr oft lüftet und das Klassenzimmer daher sehr kalt ist. Die Lehrer meiner anderen Kinder reagieren anders und lüften weniger. Insgesamt nehmen die Kinder die Situation sehr gelassen. Für die 17-Jährige ist die Situation eine Katastrophe. Zwischen 15 und 25 baut man sich soziale Kontakte auf – das fehlt. Von Freunden höre ich auch, dass die Situation Rückzüge und auch Depressionen bei einigen Jugendlichen ausgelöst hat.
Haben Sie Ihre Kinder Off-Label impfen lassen?
Nein. Meine Frau und ich haben entschieden, erst wenn der Impfstoff für die Kinder zugelassen ist, wird geimpft. So wie man Steuern zahlt, wenn sie vorgeschrieben sind. Sie haben die erste Impfung bekommen.
In den vergangenen Monaten war viel von der Wut unter dem Krankenhauspersonal zu lesen. Wie viel Wut empfinden Sie, wenn Ungeimpfte die Spitalskapazitäten an den Rand des Zusammenbruchs bringen?
Das war ein Problem, das wir im Sommer hatten. Da herrschte im Spital eine fast ideologisch aufgeladenen Situation. Damit die Situation nicht eskaliert, wurde der Status geimpft oder ungeimpft nur sachlich im Krankenblatt vermerkt. Auf der Station war für die Mitarbeiter nur mehr entscheidend, ob und wie viele SARS-CoV-2- neutralisierende monoklonale Antikörper der Patient zur Verfügung hat. Nach diesem Wert wurde die Behandlung festgelegt. Es gibt ja Patienten, die mehrfach geimpft sind, aber trotzdem zu wenig oder gar keine Antikörper entwickeln. Mit dieser Maßnahme war das Thema schnell wieder weg.
Sie haben sich immer für die Impfung eingesetzt, bekamen deswegen auch Drohungen. Virologin Dorothee von Laer ging zeitweise sogar mit Perücke außer Haus, um auf der Straße nicht erkannt zu werden. Wie belastend war die Situation für Sie?
Das war ein Drohbrief mit einer Collage, einer wollte mir den Kopf abschneiden. Aber das hat sich jetzt wieder beruhigt. Letztendlich war es zum Glück harmlos.
Die Gerichtspsychiaterin Adelheid Kastner meinte kürzlich in Bezug auf die Impfverweigerer und den Glauben an das Entwurmungsmittel als Therapie: „Die Dummheit hat aufgehört, sich zu schämen“. Stimmen Sie dem zu?
Derzeit wird tatsächlich der größte Blödsinn hinausposaunt. Der Philosoph und Schriftsteller Günther Anders war ein früher Kritiker der Auswirkungen der elektronischen Medien auf die Gesellschaft. Er meinte schon in den 1970er-Jahren, dass das Fernsehen über Sachverhalte immer nur einen Teil aussage, nie alles. Der Mensch wird durch das TV von der Urteilsarbeit enthoben. Dem TV-Konsumenten wird die Idee suggeriert, er könne über Dinge, die er im TV sieht, auch verfügen, was er als Machtzuwachs empfindet. Auch das Handy löst diese Verhaltensweisen aus. Auf einmal stimmt nur mehr, was in den Echokammern und in Telegram-Gruppen zu lesen ist: Die Lüge hat sich wahrgelogen. Das führt zur Polarisierung. Eine Urteilsarbeit, wo man einen offenen Diskurs führt, gibt es nicht mehr.
Vor einem Jahr gab es den Hoffnungsschimmer mit den ersten Impfungen. Nun kommt die Omikron-Welle, die heftig werden soll. Sind Sie nicht auch schon müde angesichts der Situation?
Omikron ist kein Krampusgeschenk, sondern es ist ein Weihnachtsgeschenk. Es wird uns rasch umdenken lassen und Maßnahmen – etwa ob man mit Schnupfen in die Quarantäne muss – wird man neu bewerten müssen. Wenn man an die ersten Analysen am Beginn der Pandemie schaut: Damals hieß es, COVID-19 sei vom Schweregrad her zehn Mal so schwer wie Influenza. Ende des Jahres 2020 war COVID-19 dann nur noch drei Mal so schwer wie Influenza. Wenn das Virus leichter übertragbar ist, wird es weniger virulent.
Das heißt, die Herdenimmunität rückt näher. Ist das Virus dann besiegt?
Das geht nicht mehr weg, das Virus müssen wir ertragen.
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