Flüchtlingskrise: Vorrang für Frauen und Kinder – geht das überhaupt?
„Frauen und Kinder zuerst“ – dafür plädieren der grüne Vizekanzler Werner Kogler und Bundespräsident Alexander Van der Bellen angesichts der Flüchtlingskrise in der Türkei bzw. in Griechenland.
Der Vizekanzler blitzte damit prompt bei Koalitionspartner ÖVP ab. Das Staatsoberhaupt ergänzte am Mittwoch, dass unbegleitete Minderjährige zuerst von den griechischen Inseln geholt werden müssten, dann Frauen und Kinder aus den Krisenregionen.
Was bedeutet das – und wie realistisch ist die Idee?
1. VdB plädiert für eine „Koalition der Willigen“ – was heißt das?
Aufgebracht hat den Ausdruck der deutsche CSU-Innenminister Horst Seehofer: Eine „Koalition der Willigen“ in der EU solle eine Lösung für Kinder und Jugendliche in griechischen Flüchtlingslagern finden. Gleichzeitig betonte er, dass die Grenzen nicht geöffnet seien.
Der CSU-Mann versucht den Spagat: Einerseits leitet ihn wohl ein humanistischer Gedanke, andererseits sendet auch er politische Signale, um Flüchtlinge nicht weiter zu motivieren, an die Grenzen zu drängen.
Bundespräsident Van der Bellen meinte dann am Dienstagabend im ORF-Report zu Seehofers Vorschlag: „Soweit wir die Kapazitäten haben, ich persönlich würde das gerne unterstützen.“
2. Wie steht die türkis-grüne Koalition dazu?
Vizekanzler Kogler blitzte mit seiner Ansage bei der ÖVP ab – und meinte dann, es sei „seine Privatmeinung“. Die Maßnahme stehe nicht im Koalitionspakt.
Eine Absage gab es am Mittwoch dann auch für Van der Bellen. „Unsere Linie als Bundesregierung ist klar, nämlich keine zusätzliche freiwillige Aufnahme in Österreich“, sagte Kanzler Sebastian Kurz.
Türkis und Grün konnten sich bisher nur darauf einigen, dass drei Millionen Euro aus dem Auslandskatastrophenfonds in die syrische Region Idlib geschickt werden.
Ein Vorstoß kam am Mittwochnachmittag dann vom grünen Innsbrucker Bürgermeister Georg Willi: Er bot an, dass seine Stadt 200 Flüchtlinge aufnehmen könne.
Das sei zwar "ein logistischer Aufwand", aber "keine Hexerei", sagt Willi. Wenn mehrere EU-Staaten – im besten Fall alle – jeweils einen Teil dieser Flüchtlinge aufnehmen, dann könne das Drama beendet werden.
3. Und was wollen die anderen Parteien?
Auf die VdB-Ansage gehen am Mittwoch weder SPÖ noch Neos konkret ein.
SPÖ-Parteichefin Pamela Rendi-Wagner sagt, es brauche neben sofortiger humanitärer Hilfe einen EU-Sondergipfel, um eine gemeinsame Linie zu finden.
Die Neos fordern ein „Relocation“-Programm für 5.000 Betroffene aus der Krisenregion, Österreich solle davon 105 aufnehmen. Damit kaufe man sich Zeit, „um als EU endlich ein effizientes Asylsystem auf die Beine zu stellen“, sagt Neos-Mandatarin Stephanie Krisper.
Die FPÖ ist – wenig überraschend – strikt gegen eine Aufnahme. Klubobmann Herbert Kickl spricht sich dafür aus, dass Österreich das Asylgesetz (wie Griechenland) aussetzt. Sollten „illegale Einwanderer Österreichs Grenzen attackieren“, würde der Ex-Innenminister mit Tränengas antworten, sagte er am Mittwoch, – letztlich „natürlich“ auch mit Waffeneinsatz.
4. Geht das überhaupt – explizit nur Frauen und Kinder zu holen?
Nein. In der Europäischen Menschenrechtskonvention sind „Frauen und Kinder“ keine Kategorie. Es gibt keine Rechtsgrundlage dafür, aufgrund ihres Alters und Geschlechts die einen zu retten und die anderen ihrem Schicksal zu überlassen.
Allerdings gäbe es angesichts der prekären Lage auf den griechischen Inseln einen Henkel, sagt Menschenrechtsexperte Manfred Nowak zum KURIER: Laut Kinderrechtekonvention dürfen Kinder nicht in Migrationshaft genommen werden. Und das sei auf den Inseln de facto der Fall, wenn es keine Möglichkeit gibt, aufs Festland zu gelangen, sagt Nowak.
Nur: was dann? „Kinder von ihren Eltern zu trennen, geht nicht“, sagt Nowak. Daher sei die Idee, Mütter mitzunehmen, zwar veraltet und patriarchalisch, aber „immer noch besser, als gar nichts zu tun".
ÖVP-Innenminister Karl Nehammer lehnt das dezidiert ab. Kaum eine Frau reise alleine, sagt er. Und selbst wenn, würden Väter und Brüder später durch eine Familienzusammenführung nachkommen können.
5. Und was ist mit Van der Bellens Vorschlag, die unbegleiteten Minderjährigen zu retten?
Laut UNHCR sitzen aktuell 1.700 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge auf den griechischen Inseln fest. Sie zu holen, wäre laut Menschenrechtsexperte Nowak schon einfacher.
Unbegleitete Minderjährige, also Mädchen und Burschen, die ohne Eltern unterwegs sind, haben im Asylrecht einen Sonderstatus und werden unter die Obhut der Jugendwohlfahrt gestellt.
Aber auch dafür bräuchte es ein europäisches Bekenntnis, sagt Nowak. Und das ist derzeit nicht in Sicht. Bei dem Chaos, das gerade auf den griechischen Inseln herrscht, bräuchte es für so eine Aktion auch entsprechende Unterstützung.
6. Wer hat zuletzt in Österreich um Asyl angesucht?
Laut Statistik des Innenministeriums waren 2019 zwei von drei Asylwerbern Männer (66,2 Prozent).
Bei der großen Migrationsbewegung 2015, als ein Rekordwert von 88.340 Asylanträgen gestellt wurden, waren es sogar fast drei Viertel (72 Prozent). Im Jahr darauf, als sich die Lage langsam beruhigte, waren immer noch 67 Prozent Männer, in den Folgejahren um die 60 Prozent.
7. Wie viele Kinder sind unter den Antragstellern?
Die Asylstatistik gliedert nicht nach Altersgruppen, bekannt ist nur die Anzahl der unbegleiteten Minderjährigen.
Im Vorjahr, 2019, gab es in Österreich 12.511 Asylanträge, unter den Antragstellern waren 963 unbegleitete Minderjährige – das sind 7,7 Prozent.
2015, im Jahr der großen Migrationsströmung, waren das 8.277 – also fast jeder zehnte Flüchtling. 2016 und 2017 wurden es anteilsmäßig weniger (nur noch 3.900 von knapp 42.300 bzw. 1.300 von 24.700).
2018 und 2019 hatte Österreich laut Innenminister Nehammer 7.000 Kinder und 4.000 Frauen in Grundversorgung und in Asylverfahren.
8. Van der Bellen sagt auch, Österreich solle jene nehmen, bei denen "zumindest auf den ersten Blick ein Asylgrund gegeben sei". Geht das?
Derzeit nicht. Denn: Wer soll auf "den ersten Blick" darüber bestimmen? Und auf welcher Grundlage?
Dafür bräuchte es eine formale Prüfung vor Ort. Und die lange geforderten Erstaufnahmezentren an den EU-Außengrenzen gibt es bis heute nicht.
Deshalb, sagt Menschenrechtler Nowak, hilft langfristig nur eines: „Wir brauchen endlich ein gemeinsames EU-Migrationsrecht und eine EU-Migrationsbehörde. Die aktuelle Situation zeigt uns allen, dass das System nicht funktioniert. Ich hoffe, dass die neue EU-Kommission das Problem endlich löst.“
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