Grüne wählten Schilling mit 96,55 Prozent zur EU-Spitzenkandidatin
Als "total oagen Moment" bezeichnet die 23-jährige Lena Schilling den Moment, als sie am Samstag beim Grünen Bundeskongress in Graz zur Spitzenkandidatin für die EU-Wahl gekürt wurde. Woraufhin sie gleich "ein ganz peinliches Selfie" mit ihren Unterstützern auf der Bühne macht.
Ein "bissl frech sein und mutig" - das ist das Credo der Klimaaktivistin, die jetzt ins EU-Parlament einziehen will - und laut Umfragen wohl mit mindestens einem weiteren Mandatar auch wird. Die 96,55 Prozent der Delegiertenstimmen geben Schilling jetzt den nötigen Rückenwind für ihre Kandidatur.
Zuvor hatte Schilling mit einer stellenweise sehr emotionalen Rede um das Vertrauen der Delegierten geworben: "Ihr könnt euch nicht vorstellen, was es mir bedeutet, hier zu stehen", sagte sie, nachdem mit minutenlangem Applaus auf der Bühne begrüßt worden war.
Die 23-Jährige kommt aus der "Fridays for Future"-Bewegung und war auch Kopf der "Lobau bleibt"-Bewegung, die monatelang die Baustelle des Lobautunnels in Wien blockiert hat.
"Politik auf den Straßen und in den Parlamenten"
Eine Frage von Journalisten, die sie "wurmt", sei, warum sie jetzt vom Aktivismus in die Politik wechselt. "Die Frage stimmt nicht. Wir als Aktivisten machen Politik. Nicht in den Parlamenten, aber auf den Straßen", sagte Schilling und verwies auf die Millionen Menschen, die auf der ganzen Welt fürs Klima protestiert und Politiker dazu gezwungen haben, sich zu äußern.
Die Grünen seien die einzige Partei, mit der sie den Kampf fürs Klima "glaubhaft" weiterkämpfen könne. Es sei eine Notwendigkeit, diesen Kampf auf der Straße und in den Parlamenten zu kämpfen.
"Wütend" mache es sie in diesem Zusammenhang, wenn ÖVP-Kanzler Karl Nehammer einen Österreichplan präsentiert und auf dem Titelblatt des Mobilität-Kapitels eine vierspurige Autobahn zeigt, sagte Schilling.
"Wütend" mache sie auch, dass diejenigen, die am wenigsten zur Klimakrise beigetragen haben, am stärksten unter ihr leiden - siehe Hitze, Unwetter, Naturkatastrophen. Gleichzeitig betonte sie: "Das Problem ist nicht der Familienurlaub in Italien, das Problem ist der Privatjet."
"Jetzt ist es Zeit"
Zweiter Schwerpunkt ihrer Rede war der Kampf gegen Rechts: Schilling nannte Faschisten in Italien, die Deportierungspläne der AfD in Deutschland und Herbert Kickl "mit seinen politischen Fahndungslisten für Gegner" in Österreich.
"Wohin soll das führen?", fragte sie ins Publikum. "Sollen wir mundtot gemacht und verhaftet werden? Wenn ich das höre, dann weiß ich: Jetzt ist es Zeit."
Schilling blieb emotional. Sie habe ihren Großeltern einmal die Frage gestellt, warum damals, in der NS-Zeit, niemand etwas dagegen gemacht habe. "Ich will nicht, dass uns diese Frage einmal jemand stellt. So weit wird es nicht kommen."
Mit den Worten: "Für das Klima, gegen Rechts. Das bin ich, das bekommt ihr, wenn ihr das mit mir durchziehen wollt" schloss die 23-Jährige ihre Rede ab.
"Diese Zeit ist die unsere"
Am Vormittag begrüßte Parteichef und Vizekanzler Werner Kogler die rund 290 Delegierten in seiner Heimatstadt Graz. Da, wo er vor 40 Jahren mitten in der Nacht illegalerweise einen Fahrradstreifen auf die Straße gepinselt - und zuvor entsprechende Ausrüstung bei der Straßenmeisterei "sichergestellt" - hat.
"Graz ist Heimat", sagte Kogler, "Steiermark, Österreich" auch. "Aber die wichtigste Heimat ist Europa."
Das zu erkennen, sei wichtiger als je zuvor, betonte Kogler. "Die europäische Einigung war noch nie so bedroht wie jetzt." Bei allen Defiziten, die die europäische Einigung habe, sei sie "immer noch die beste. Wir wollen noch mehr, und dafür arbeiten wir und oft kämpfen wir auch."
Die Grünen würden für Zusammenhalt und Zuversicht stehen, auf der anderen Seite seien die Rechtsextremen, die Rechtspopulisten und die "Lamentierer".
"Ja, es mag bessere Zeiten gegeben haben", sagte Kogler in Bezug auf Krisen und Kriege. "Aber diese Zeit ist die unsere, und da müssen wir reinhackeln."
Attacken auf KPÖ und FPÖ
Zum heutigen Jahrestags des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hüllte sich Kogler auf der Bühne in die blau-gelbe Fahne - ein Zeichen der Solidarität, dafür gab es Standing Ovations in der Halle.
Aufs Schärfste verurteilte er in diesem Zusammenhang eine "Fraktion, die in besetzte Gebiete in der Ostukraine fährt und sich mit den russischen Handlangern eingehängt fotografieren lässt", so Kogler - es handle sich um Mitglieder des steirischen Landtagsklub der KPÖ. "Das ist zum Schämen", schrie er unter kräftigem Beifall ins Publikum.
Die KPÖ könne sich mit der FPÖ zusammentun, mit den "blauen Brüdern", die in Graz in die Kassa greifen würden.
Spannende Bemerkung - immerhin arbeiten die Grünen in der Stadt Graz mit der die KPÖ zusammen.
"Orbanistan" und "Niedergang"
Immer wieder betonte Kogler in seiner Rede den Kampf gegen "Rechtsextremisten und Populisten", und zog, was die FPÖ und deren Chef Herbert Kickl betrifft, seinen neuen Lieblingsslogan hervor, der im Nationalratswahlkampf wohl noch öfter fallen wird:
"Kommt Kickl, kommt Orbanistan, kommt Niedergang."
Die FPÖ nannte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban als Vorbild. "Ungarn ist ein Mafiastaat, Oligarchen sacken alles ein", so Kogler. "Das kann nicht das Vorbild für Österreich sein."
Auch für die SPÖ hatte Kogler keine schmeichelhafte Worte - wobei es für ein paar Sekunden den Eindruck machte: "Die Sozialdemokratie ist verlässlich", so Kogler. "Verlässlich." Kunstpause. "Verlässlich auf der falschen Seite."
Nicht lamentieren
Gemeint ist deren Politik des "Zubetonierens". Hier nimmt Kogler neben den SPÖ- auch die ÖVP-Landeshauptleute in die Pflicht. Kürzlich haben die Grünen einen Brief an Johanna Mikl-Leitner, derzeit Vorsitzende der Landeshauptleute-Konferenz geschickt und eindringlich an sie appelliert, die Bodenversiegelung zu stoppen.
Seit dem Jahr 2000 seien in Österreich Böden in der Größe des Burgenlandes versiegelt worden. "Wenn das so weitergeht, können wir in 20 Jahren kein Getreide und Gemüse mehr anbauen", so Kogler. Es gehe hier nicht nur um Umweltschutz, sondern auch um Ernährungssicherheit.
Aber Kogler will aber nicht lamentieren - im Gegenteil, wie er mehrmals betont: "Es wird angepackt." Hier verwies er auf die grünen Erfolge in der Regierung: die Valorisierung der Sozialhilfe, die Abschaffung der kalten Progression und die Aufstockung des Justiz-Budgets.
Apropos Justiz: Dass gestern Ex-Kanzler Sebastian Kurz (nicht rechtskräftig) wegen Falschaussage zu acht Monaten bedingter Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, fand in Koglers Rede keine Erwähnung. Auch die ÖVP wurde nur indirekt genannt - als "Betonköpfe, immer wieder auf der Suche nach der reformresistenten Blockade-Elite".
Aber die wohl größte Überraschung in Koglers Rede war: Sie hatte nur drei Minuten Überlänge.
Korruption als Gift
Nach der Rede Koglers wurde über die beiden Leitanträge - einer zum "Klimaglück", ein zweiter gegen "rechtsextreme Gefährder von Demokratie und europäischer Einigung" - diskutiert.
Den zweiten präsentierten Justizministerin Alma Zadic und Klubchefin Sigrid Mauer. Zadic betonte in ihrer Rede, wie wichtig der Kampf gegen Korruption sei: "Korruption ist Gift, sie untergräbt die Demokratie." Es brauche Transparenz, klare Spielregeln und eine effektive Strafverfolgung.
Und auch hier wurde der Koalitionspartner, der gerade mit einer Reihe von Korruptionsermittlungen konfrontiert ist, mit keinem Wort erwähnt.
Zwei Männer in Top 4
Der Nachmittag ist den Listenplätzen zwei bis sechs gewidmet. Der Platz hinter Spitzenkandidatin Schilling ging mit 96,8 Prozent an den steirischen EU-Routinier Tom Waitz, auf Platz zwei setzte sich die Oberösterreicherin Ines Vukajlović gegen zwei Konkurrentinnen durch.
Platz vier ging an den Quereinsteiger Michael Eschlböck, er ist Präsident des American-Football-Verbandes.
Ziel der Grünen bei der EU-Wahl am 9. Juni wird sein, ihre bisherigen drei Mandate zu halten. 2019 hatten sie 14,08 Prozent Stimmanteil erreicht.
Sarah Wiener, prominente Quereinsteigerin bei der letzten Wahl, verzichtet ebenso auf ein weiteres Antreten wie die langjährige Mandatarin Monika Vana. Kogler, 2019 grünes EU-Zugpferd, konzentriert sich diesmal ganz auf die Nationalratswahl im Herbst.
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