Antifa-Proteste: Ist die radikale Linke müde geworden?
Der Boden vor dem Hörsaal 50 ist mit Eierschalen übersät. Während Vorlesungsbesucher versuchen, sich die Reste des klebrigen Inhalts von der Kleidung zu wischen, skandieren Vermummte ihre Parolen. „Nazis raus!“. „Haut ab!“. Sie tragen Sonnenbrillen und Kapuzen und haben an diesem Dienstag nur ein Ziel: Die Lehrveranstaltung des FPÖ-nahen Historikers Lothar Höbelt an der Universität Wien zu verhindern.
Eine von ihnen ist Klara Thaler (Name von der Redaktion geändert). Sie ist wie knapp 200 andere dem Aufruf der Autonomen Antifa gefolgt, die Vorlesung zu blockieren. Die Studentin fand über Proteste gegen den Korporationsball – seit 2013 Akademikerball – in die linksradikale Szene.
Der Ball, der am Freitag in der Hofburg stattfindet, war stets von Demonstrationen begleitet, die mitunter auch von Linksradikalen für Eskalationen genutzt wurden. Zuletzt hat der Widerstand abgenommen. Vergangenes Jahr demonstrierten lediglich 1.600 Menschen dagegen. Immerhin mehr als bei der Opernballdemo, die 2019 gar nicht erst stattfand. Ist die Linksradikale abseits des Kampffeldes Uni müde?
Ein Blick in den Verfassungsschutzbericht zeigt: Die Straftaten der „linksextremen Gruppierungen“ sind zurückgegangen. Die Szene selbst erklärt sich für putzmunter. „Das Mobilisierungspotenzial ist da“, betont Thaler. Auch Dagmar Schindler der „Offensive gegen Rechts“, die die Akademikerball-Demos organisiert, will nichts von linksradikaler Müdigkeit wissen. Aber zugegeben: Was den Akademikerball betrifft, sei die Luft ein wenig draußen. Auch, weil der Ball in der rechten Szene an Relevanz verloren habe, seit er von der FPÖ und nicht mehr vom Wiener Korporations-Ring, in dem auch schlagende Verbindungen organisiert sind, veranstaltet wird.
Zudem hat sich das Bündnis „NOWKR“, einst Motor der Proteste, 2015 aufgelöst. Man habe viel erreicht, heißt es. Politikwissenschafterin Judith Goetz bestätigt, dass Linksradikale mit ihren Protesten „Teilerfolge“ wie die Kündigung des Vertrags mit dem Korporationsring seitens der Hofburg erzielt hätten. Auch sieht sie eine „gewisse Gewöhnung an politische Zustände“. Man müsse nur die Proteste gegen Schwarz-Blau I im Jahr 2000 und gegen Türkis-Blau 2017 vergleichen. „Sie konnten zahlenmäßig nicht mehr anknüpfen.“
Militantes Spektrum
Auch scheint sich der Fokus verschoben zu haben. Die Linksradikale reagiert stark auf das Thema Klimawandel. Fridays for Future ist mobilisierungsstark, dementsprechend positionieren sich auch andere Gruppen. Wie groß die Linksradikale ist, ist schwer einzuschätzen. Vor allem, weil sie aus vielen kleinen Gruppierungen besteht. Autonom-anarchistische, die die Ordnung der Gesellschaft grundsätzlich ablehnen und reformistische, die sich mit Appellen an Regierungen und Parteien richten.
Auch innerhalb der Klimabewegung gibt es Gruppen, die sich in einem militanteren Spektrum verorten. In Österreich etwa die Gruppe „System Change, Not Climate Change“, die eine Systemänderung fordert. Dass sich Links und Rechts an ihrem extremen Rändern treffen können, zeigt nicht zuletzt die Holocaust-Relativierung des Extinction-Rebellion-Mitgründers Roger Hallam, der mit Vergleichen zu Nazi-Verbrechen aufhorchen ließ und behauptete, die „Eliten“ hätten den Klimawandel geplant. In Verschwörungstheorien und verkürzter Kapitalismuskritik werden antisemitische Denkmuster übernommen. Stichwort „Jüdische Weltverschwörung.“ Ebenso in einem sowohl links als auch rechts anzutreffenden Antiamerikanismus: „Auch hier finden wir Verschwörungsnarrative, etwa von der Ostküste und den Juden, die alles steuern würden,“ sagt Politologin Goetz.
Gewaltsamer Protest
Die radikale Linke ist auch deshalb schwer zu fassen, weil hier, im Gegensatz zu rechtsextremen Gruppen, Organisationsformen nicht im Vordergrund stehen. Man will sich als Individuum nicht in der Gruppe verlieren. Das schafft Raum für Konflikte. So ist man sich in puncto Gewaltanwendung uneinig. Während die „Offensive gegen Rechts“ die Ausschreitungen bei den Akademikerball-Demos 2014 klar als „Eskalation“ bezeichnet, tut „NOWKR“ sie als „kleinere Zwischenfälle“ ab. Immerhin wurden damals Schaufenster eingeschlagen und Beamte verletzt.
Hausbesetzungen
Amerlinghaus, Gassergasse, Aegidi-Gasse, Ernst-Kirchweger-Haus: In den Hausbesetzungen der 1970er und 1980er Jahre wurzelte auch die Linksradikale in Österreich. Wobei die Besetzer-Szene keineswegs homogen war: Das Spektrum reichte von konservativen bis zu progressiven und linksradikalen Aktivisten bis hin zu Künstlern und Junkies. Erinnerungen an Polizei-Räumungen wurden später teil der Besetzter-Folklore. Mit den Opernball-Demonstrationen ab 1987 folgte eine neue Hochblüte der Linksradikalen. Anlass für die erste Demo, angemeldet von den Grünen Alternativen, war Ballgast und CSU-Politiker Franz Josef Strauß.
Ausschreitungen
Ab der zweiten Demonstration 1988 kam es immer wieder zu größeren Zwischenfällen. Die Demos wurden zunehmend von Linksradikalen vereinnahmt, aber auch von Rechtsextremen unterwandert (1990). Am 2. März 2000 nahmen 150.000 Menschen an der größten „Anti-Opernball“-Demonstration teil. Zuletzt verlagerten sich die linksradikalen Proteste auf den Wiener Akademikerball, zuvor WKR-Ball. Im September 2018 kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei bei den Gegenprotesten zum EU-Gipfel in Salzburg. 2020 ist gegen den Opernball keine Demonstration angekündigt, sehr wohl aber gegen den Akademikerball am 24. Jänner.
Die Affinität der Szene zur Gewalt musste auch Pressefotograf Marcus Deak erfahren. Er stand bei Demos oft zwischen den Fronten. Bei der Regierungsangelobung 2000 wurde ihm ein Pflasterstein auf den Fuß geschleudert, er war monatelang außer Gefecht. „Ich hab mich wahnsinnig geärgert, weil die Linken behauptet haben, sie würden keine Steine werfen. Ich war der humpelnde Gegenbeweis!“ Deak hat in drei Jahrzehnten als Fotoreporter viele Eskalationen miterlebt. „Der Schwarze Block hat früher gerne Frauen vorgeschickt, die uns auf die Kameras geschlagen haben. Damals glaubten die Demonstranten, wir machen gemeinsame Sache mit der Polizei.“ Apropos Schwarzer Block: Wer ist er eigentlich? Laut Verfassungsschutz keine Gruppe, sondern eine Demonstrationstaktik. Jeder kann sich spontan anschließen. Das macht ihn schwer greifbar.
Schwer greifbar: Das lässt sich über die gesamte Linksradikale sagen. Wer und wogegen sie sind, ist oft nicht klar: Grundkonsens ist Antifaschismus, ansonsten ist man sich uneinig. Das Feindbild Staat ist vielen gemeinsam. Bei der Anti-Höbelt-Demo wurde aber auch dieser Grundsatz aufgeweicht, als man Polizisten bejubelte, die rechtsextreme Gegendemonstranten einkesselten. Auch die Behörden tun sich schwer mit Einordnung: Oberösterreichs Verfassungsschutz legte jüngst eine Einordnung der „Omas gegen rechts“ als linksradikal nahe, was ein Polizeisprecher jedoch bestritt. Mit dieser Einordnung wäre die Linksradikale tatsächlich in Pension.
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