AK-Präsidentin Anderl: "Müssen 40 Stunden an Realität anpassen"
Renate Anderl will sich in der Debatte um die 32-Stunden-Woche auf keine Zahl festlegen, sondern einen Runden Tisch und spricht über Kredite und die Schattenseiten von Homeoffice.
Der Gewerkschaft drückt sie alle Daumen für einen Mindestlohn über 2.000 Euro brutto. Der Wirtschaftskammer richtet Renate Anderl aus, mit 50 Jahre alten Argumenten zu arbeiten.
KURIER: Sie vertreten als AK-Präsidentin fast vier Millionen Menschen, die in Österreich arbeiten. Was ist deren derzeit drängendste und dringendste Frage?
Renate Anderl: Aktuell leiden viele Menschen unter der Hitze am Arbeitsplatz und seit Langem leiden die Menschen massiv unter der Teuerung. Wir erleben, dass Menschen sich ihre Miete nicht mehr leisten können, ihre Wohnungen nicht mehr ausreichend heizen und ihre Kredite nicht mehr bedienen können.
Es liegt in der Verantwortung des Bankberaters über die Vorteile und Risiken aufzuklären und es liegt in der Eigenverantwortung des Kunden, einen Kredit mit variablen Zinsen aufzunehmen. Aber: Nur die wenigsten haben bei Abschluss dieser Kredite gewusst, dass sich die Zinspolitik so rasch und massiv ändert. Deshalb ist es jetzt umso wichtiger, dass man den Menschen, die ihre Kredite nicht mehr bedienen können, entgegenkommt.
FPÖ-Chef Herbert Kickl will einen Mindestlohn von 2.000 Euro brutto, SPÖ-Burgenland-Chef Hans Peter Doskozil von 2.000 Euro netto. Welche Forderung ist realistisch?
Die Forderung nach einem Mindestlohn gab es immer. Die erste Forderung betrug 1.300 Euro brutto, dann 1.500 und die letzte lag bei 1.700 Euro brutto. Jetzt wollen die Gewerkschaften einen kollektivvertraglichen Mindestlohn von 2.000 Euro brutto, und ich drücke alle Daumen, die ich habe, damit diese Forderung umgesetzt werden kann.
Kann man von 2.000 Euro brutto/1.567 Euro netto im Monat leben, Frau Präsidentin?
Jeder und jede soll in Österreich eine Arbeit und damit ein Einkommen haben, von dem er oder sie leben kann. Es darf nicht sein, dass es in Österreich Menschen gibt, die arbeiten und trotzdem in Armut leben, wie das vor allem bei Frauen im Dienstleistungs- oder Reinigungsbereich und damit im untersten Einkommensbereich der Fall ist.
Soll es Nulllohnrunden bei Politikergehältern geben?
Ganz ehrlich: Politiker machen auch ihre Arbeit, aber ich mache bei Diskussionen über Nulllohnrunden nicht mit.
Mit der Inflation steigen die Löhne und Gehälter und damit auch die Beiträge für die AK. Warum gibt es bei der AK keine Beitragsreduktion, um die Menschen zu entlasten?
Ja, es stimmt: Es gibt Lohnerhöhungen und eine steigende Zahl an Mitgliedern, aber dementsprechend steigen auch unsere Leistungen und Beratungen. Würden wir Beiträge kürzen, hätte das einzelne Mitglied nichts davon. Der durchschnittliche Mitgliedsbeitrag beläuft sich auf acht Euro pro Monat. Aber: Alle erwarten sich, dass wir Hilfe leisten – und das tun wir.
Wir haben im Vorjahr durch Rechtsberatung fast 500 Millionen Euro für unsere Mitglieder herausgeholt, mehr als zwei Millionen Beratungen durchgeführt, die Mietrechtsberatung aufrechterhalten und die Pflegegeldberatung aufgestockt. Wenn die Beiträge reduziert würden, würde es das Angebot so nicht geben.
In Österreich gibt es eine 40-Stunden-Woche, SPÖ-Chef Andreas Babler will eine 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, Sie sprachen von einer gesunden Wochenarbeitszeit von 32 bis 35 Stunden …
Dass 32 bis 35 Stunden ein gesundes Ausmaß für eine Wochenarbeitszeit ist, das besagt eine Studie. Ich habe noch nie gesagt, welche Stundenanzahl die richtige wäre – bewusst nicht.
Weil wir erst darüber diskutieren müssen, was in Österreich Realität ist. 40 Stunden stehen im Gesetz, in vielen Kollektivverträgen stehen 38,5 Stunden oder 36 Stunden. Es wäre schon mal ein richtiger Ansatz, würden wir die derzeitigen gesetzlichen Bestimmungen – nämlich 40 Stunden pro Woche – an die Realität anpassen. Unsere jahrelange Forderung nach der sechsten Urlaubswoche – und zwar ohne die Bedingung von 25 oder 20 Jahre Dienstzugehörigkeit, die es ja kaum mehr gibt – wäre auch eine Art von Arbeitszeitverkürzung.
Arbeiterkammer (AK): Die Interessensvertretung der Arbeitnehmer (ca. 4 Millionen Menschen) ist im Arbeiterkammergesetz verankert. Die Kammerumlage (Mitgliedsbeitrag) beträgt monatlich 0,5 % der Beitragsgrundlage für die Krankenversicherung. Bei einem mittleren Einkommen beträgt diese rund 8 Euro netto im Monat.
Renate Anderl: Nach der Handelsschule beginnt Anderl (Jg. 1962) als Büroassistentin der Gewerkschaft Metall-Bergbau-Energie. 2003 wechselt sie nach der Betriebsräte-Akademie als Frauensekretärin in die Gewerkschaft. 2008 wird sie Frauenvorsitzende, von 2014 bis 2018 ist sie ÖGB-Vizepräsidentin. 2018 wird Anderl Präsidentin der AK Wien und der Bundesarbeitskammer. Die Wienerin ist verheiratet und Mutter eines Sohnes.
Sie wollen also einen Runden Tisch zur Arbeitszeitverkürzung?
Wir müssen uns alle, und zwar ernsthaft, an einen Tisch setzen und darüber sprechen, wie Arbeit und Arbeitszeitverkürzung in unterschiedlichen Branchen aussehen kann. Das Argument der Wirtschaftskammer, bei geringerer Arbeitszeit würde die Wirtschaft zusammenbrechen, gibt es schon seit 50 Jahren. Wir sind Weltmeister bei Arbeitszeiten und bei Überstunden. 2022 wurden 192 Millionen Überstunden geleistet, und 47 Millionen dieser Überstunden wurden nicht ausbezahlt, unter anderem, weil Mitarbeiter in Vorleistung gingen.
In welcher Branche kann weniger gearbeitet werden, und das ohne negative Folgen?
Im Gesundheitsbereich zum Beispiel, von dem uns viele Beschäftigte erzählen, dass sie keine Zeit mehr für Patienten oder Pflegeheimbewohner haben und deshalb den Job verlassen. Es gibt derzeit aber kaum einen Arbeitsplatz, wo der Arbeitsdruck nicht im Steigen begriffen ist.
Die Digitalisierung und ständige Erreichbarkeit durch Handys und der Anspruch, dass alles schneller gehen muss, ist ein Druck, den wir alle spüren. Wir sind alle durch die technischen Möglichkeiten produktiver als vor 50 Jahren.
Und im Homeoffice, das viele US-Konzerne wieder zurückfahren, weil es eben nicht so produktiv und effizient ist wie ursprünglich gedacht?
Homeoffice ist gekommen, um zu bleiben, und hat zugegeben auch Schattenseiten. Homeoffice muss immer eine Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und -nehmer und die Anzahl der Arbeitstage wohl dosiert sein. Wer als Arbeitnehmer nicht gesehen wird, der ist auch schnell weg. Wer nie seine Kollegen sieht, der verliert den Bezug zu ihnen und zum Arbeitgeber. Wer nie aufhört mit der Arbeit oder nebenbei noch Kinder und Haushalt bewerkstelligt, der wird sich schwertun, einen Ausgleich zu finden.
Zum Schluss: Wie heiß werden die Lohnverhandlungen im Herbst?
Die Gewerkschaften werden mit Recht darauf pochen, dass es für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen guten Ausgleich und eine kräftige Lohnerhöhung gibt. Die Wirtschaftskammer wird auch damit rechnen müssen, weil die Arbeitnehmer ein Einkommen brauchen, von dem sie leben können, eben gerade auch, damit sie es ausgeben und der Wirtschaft zurückgeben können.
(kurier.at, haj)
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Aktualisiert am 28.08.2023, 06:39
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