Die „größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit und für Frieden im euro-atlantischen Raum“ – das ist aus Sicht der NATO Russland. So ist es im neuen Strategischen Konzept des Militärbündnisses zu lesen. Diese Leitlinie der NATO, die ihren Kurs für die kommenden zehn Jahre festlegt, haben die Staats- und Regierungschefs der 30 NATO-Länder bei ihrem Gipfeltreffen in Madrid verabschiedet.
Das Ungewöhnliche dabei: Zum ersten Mal überhaupt findet sich in einem Strategischen Konzept der NATO auch das Wort „China“. Die Volksrepublik versuche, ihre Macht auszudehnen, wirtschaftlich und ebenso politisch, heißt es im Dokument der Allianz. Und: China wolle die internationale Ordnung untergraben. Noch deutlicher wurde NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Mittwoch: „China tyrannisiert seine Nachbarn und bedroht Taiwan.“
Einen deklarierten Gegner oder Feind nennt die NATO das zur Weltmacht aufgestiegene China zwar nicht. Doch die Volksrepublik sei eine „Herausforderung“, heißt es nun. Für das westliche Bündnis steht demnach fest: Die eigentliche Bedrohung in der Zukunft geht nicht von Russland, sondern von China aus.
Das Reich der Mitte stelle die „Interessen, Sicherheit und Werte“ der Allianz infrage. Gegenüber dem aggressiven Machtstreben der chinesischen Staatsführung will das Bündnis nicht blind sein. Nicht ohne warnenden Unterton ist dem Strategischen Konzept deshalb zu entnehmen: Die NATO werde weiterhin „für die Freiheit der Schifffahrt eintreten“.
Gemeint ist damit vor allem das Spannungsfeld im Süd- und Ostchinesischen Meer, wo die Volksrepublik ihre territorialen Ansprüche besonders deutlich macht. Innerhalb weniger Jahre sind hier unter chinesischer Flagge Hunderte winzige Inseln aus Beton oder aufgeschüttetem Sand entstanden. Sie werden als Militärbasen genutzt und sollen den Anspruch auf die gewaltigen Meeresgebiete unterstreichen.
Zudem patrouilliert die wachsende chinesische Marine im Pazifik in immer weiteren Kreisen und schikaniert Fischerboote und Schiffe anderer Staaten – vor allem in Südostasien in etlichen Fällen nur wenige Kilometer vor den Küsten der Philippinen, Indonesiens oder Malaysiens.
Chinas Botschaft an diese Staaten ist klar: „Wollt ihr das Meer nutzen, müsst ihr euch uns zuwenden.“ Bisher wandten sich die bedrohten Nationen aber stets an die USA – und damit an die NATO.
Die militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten ist auch der Hauptgrund dafür, dass die Machthaber in Peking ihre stetigen Drohungen gegenüber Taiwan noch nicht wahr gemacht haben. Die USA haben dem Inselstaat mit seinen 24 Millionen Einwohnern schon 1979 in einer schwammigen Erklärung Schutz im Falle einer chinesischen Invasion zugesichert, Präsident Joe Biden bestätigte diese Schutzverpflichtung zuletzt.
Chinas Staatspräsident Xi Jinping hat dagegen die „Befreiung“ Taiwans schon vor Jahren zum obersten Ziel seiner Herrschaft erkoren. Solche Versprechungen kommen im Reich der Mitte einer Verpflichtung gleich. Die Regierung pumpt seither Unsummen in das Militär: Mehr als 280 Milliarden Euro waren es 2021 – immer noch weniger als ein Drittel der US-Verteidigungsausgaben, doch die Differenz verkleinert sich von Jahr zu Jahr. Erst Mitte Juni präsentierte die chinesische Marine ihren bereits dritten Flugzeugträger „Fujian“.
NATO-Kompromiss
Wäre es nach den Wünschen der USA gegangen, wäre die Wortwahl im neuen Konzept der NATO auch deshalb noch viel schärfer ausgefallen. „Die USA haben zu Recht China als den Hauptkonkurrenten erkannt“, schildert Robert Brieger, Ex-Generalstabschef und nunmehr höchster Militär in der EU in einem Interview mit dem KURIER. „Weil China gegenüber Russland die stärkere Wirtschaftsmacht ist, über mehr Ressourcen verfügt. Somit ist es von einer westlichen, von einer globalen Perspektive her gesehen naheliegend, China an die Spitze der Herausforderungen zu setzen.“
Gegen einen allzu scharfen Kurs der NATO gegenüber Peking legten sich aber vor allem Frankreich und Deutschland quer: Nicht zuletzt mit dem Blick auf die wirtschaftlichen Interessen Europas in China wollte man das Land nicht auf dieselbe Stufe wie Russland setzen.
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