Brieger: "Können nicht immer auf NATO-Ressourcen zurückgreifen"
Der Krieg in der Ukraine beschäftigt ihn Tag und Nacht: Der Österreicher und Ex-Generalstabschef Robert Brieger hat seit Kurzem die höchste militärische Position in der EU inne.
Als Robert Brieger vor einem Jahr für die Leitung des obersten EU-Militärgremiums kandidierte, war ein Krieg in Europa noch undenkbar. Heute, seit sechs Wochen in Brüssel im Amt, beherrscht der russische Krieg gegen die Ukraine den Alltag des österreichischen Ex-Generalsstabschefs. Und immer dringlicher wird für Brieger und den Militärausschuss die Frage: Wie Europa ausreichend schützen?
KURIER: Wie wird Ihrer Einschätzung nach der Krieg in der Ukraine weiter verlaufen?
Robert Brieger: Der Krieg ist übergegangen in einen Abnutzungskrieg. Und in einem Abnutzungskrieg hat Russland aufgrund seiner viel größeren Ressourcen das Übergewicht. Die Fähigkeit der Ukraine, sich weiter zu verteidigen oder sogar verlorenes Territorium zurückzugewinnen, hängt dagegen in einem massiven Umfang von den westlichen Unterstützungen ab - Waffen, Munition, Ausrüstung, finanzielle Unterstützung.
Vieles läuft schon, aber es ist eben doch so, dass im Bereich der Artillerie die Russen eine zwischen zehn und 20-fache Überlegenheit besitzen, die nicht so schnell auszugleichen ist.
Der Krieg wird sich also in die Länge ziehen?
Ich glaube, dass der Anspruch von Präsidenten Selenskij, so verständlich er politisch sein mag, nämlich die volle Souveränität der Ukraine einschließlich der Krim wiederherzustellen, für eine politische Lösung nicht geeignet ist. Soweit kann ihm der russische Präsident nicht entgegenkommen.
Auf der anderen Seite verstehe ich natürlich auch, dass für Selenskij die russische Minimalforderung ebenfalls untragbar ist. Diese würde offensichtlich vorsehen, dass die sogenannten befreiten Gebiete, einschließlich der Krim, und des Korridors zur Krim russifiziert werden. Das ist eine politisch sehr verfahrene Situation.
Könnte die westliche Unterstützung bald nachlassen?
Mittlerweile sieht es aufgrund der Auswirkungen der Sanktionen in den Mitgliedstaaten so aus, als ob die sogenannte Friedenspartei langsam Zulauf erhielte. Man sagt, die Ukraine und Russland müssten zu irgendeiner friedlichen Lösung kommen, weil sonst die ökonomischen Auswirkungen so gravierend werden, dass der soziale Frieden in Europa verlorengeht.
Gibt es eine rote Linie für die NATO, wo sie aktiv in den Krieg eingreifen würde?
Ein Angriff auf einen NATO-Mitgliedstaat wäre sehr wahrscheinlich die Auslösung des Artikel 5 des Nordatlantik Vertrages, das heißt Bündnisverteidigung. Der Artikel 5 verpflichtet alle NATO Staaten zum solidarischen Handeln. Dann würde es wirklich von einem Spannungszustand in einen Kriegszustand übergehen.
Ich glaube aber, dass sich auch die russische Führung dessen bewusst ist. Andererseits hat Putin ja auch schon wissen lassen, dass es aus seiner Sicht alte Ansprüche auf das Baltikum gibt. Das würde eine neue Eskalationsstufe mit sich bringen. Das wäre der europäische Krieg.
Was wird die nun angekündigte Truppenverstärkung der NATO auf 300.000 Mann für Europa bedeuten?
Jegliche Verstärkung des Bündnisses bedeutet gleichzeitig eine Erhöhung der militärischen Reaktionsfähigkeit Europas. Dies gilt auch für einen etwaigen NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens, wenn man davon ausgeht, dass die bisherige Aufgabenteilung zwischen NATO (Bündnisverteidigung) und EU (Krisenreaktion) aufrecht bleibt.
Der Ex-Generalstabschef (65) leitet seit sechs Wochen das höchste Militärgremium der EU, den EU-Militärausschuss in Brüssel. Dort beraten die Generalstabschefs aller 27 EU-Staaten. Aus einem neutralen Land mit kleiner Armee zu kommen, „hat in dieser Funktion Vorteile“, meint Brieger: „Da wird einem möglicherweise als Mediator mehr zugetraut als einem Kandidaten einer großen Nation mit starken eigenen Interessen“
Wichtigste Aufgaben
Militärische Beratung des EU-Außenbeauftragten Borrell, aber auch die Entwicklung der strategischen sicherheitspolitischen Ausrichtung der EU
Es gab jüngst russische Drohungen gegen Litauen wegen der Zugtransport-Blockaden. Nehmen Sie das ernst oder halten Sie das für eher für eine Art Donnergrollen?
Ich glaube, es ist zu einem Gutteil Rhetorik. Natürlich wird Putin alles tun, um Litauen in irgendeiner Form zu schädigen. Aber ich hoffe, dass er die Schwelle nicht überschreitet.
In ihrem neuen strategischen Papier bezeichnet die NATO Russland als „Gegner“, aber China nicht. Sehen Sie auch China als die geringere Bedrohung an?
Auch in China hat sich die Rhetorik verschärft. Die Bedeutung Chinas als Bedrohung für den Westen wird sich im neuen NATO-Konzept abbilden. China ist ja auch der Grund, warum die USA ihr Hauptaugenmerk schon seit der Obama-Administration von Europa ab- und Asien zugewendet haben. Die Ausrichtung der geopolitischen Interessen der Vereinigten Staaten auf Südostasien ist manifest.
Sie wird sich verstärken, weil die Vereinigten Staaten zu Recht China als den Hauptkonkurrenten erkannt haben. Weil China gegenüber Russland die stärkere Wirtschaftsmacht ist, über mehr Ressourcen verfügt. Somit ist es von einer westlichen, von einer globalen Perspektive her gesehen naheliegend, China an die Spitze der Herausforderungen zu setzen, obwohl Russland jetzt diesen Krieg begonnen hat.
Braucht die EU abseits der NATO militärischen Schutz?
Die EU ist gut beraten, eine eigene Verteidigungskapazität aufzubauen, damit nicht bei jeder Gelegenheit auf die Ressourcen der NATO und das heißt im Klartext meistens die Ressourcen der Vereinigten Staaten zurückgegriffen werden muss. Die Krisen der letzten Monate und insbesondere der Krieg in der Ukraine legen das sehr nahe.
Vereinfacht gesagt: Europa muss lernen, so wie das Josep Borell ausgedrückt hat, die Sprache der Macht zu sprechen. Das ist vielleicht ungewohnt für ein Friedensprojekt wie die EU: Aber so wie die österreichische Neutralität einen starken militärischen Schutz braucht, wie ich als Generalstabschef immer gesagt habe, genauso braucht auch das Friedensprojekt der Europäischen Union militärischen Schutz.
Sie haben einmal von einer europäischen Verteidigungsidentität gesprochen. Was soll das sein?
Das EU-Militärkomitee ist auch verantwortlich für die Weiterentwicklung der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Wir haben jetzt ein Schlüsseldokument: Der “Strategische Kompass”, es geht dabei um die Entwicklung entsprechender militärischer Kapazitäten, der Reaktionsfähigkeit, den Schutz der eigenen Interessen. Als vielleicht sichtbarste Auswirkung davon wurde beschlossen, eine Schnelle Eingreiftruppe (Rapid Deployment Capacity) ins Leben zu rufen.
Diese fußt im Kern auf den bereits vorhandenen Battle Groups, soll aber auf 5.000 Mann verstärkt werden - für einen Zeitraum von einem ganzen Jahr. Sie soll 2025 voll einsatzbereit sein und 2023, also nächstes Jahr bereits eine Truppenübung absolvieren.
Würde diese 5.000 Mann starke Truppe in Kämpfe geschickt werden?
Der Abzug aus Afghanistan war einer der Auslöser für diese Überlegungen. Man hat beschlossen: Wir müssen in der Lage sein, solch eine Evakuierungsoperation mit europäischen Mitteln zu bewältigen. Aber wir arbeiten derzeit Szenarien aus. Neben Krisenmanagement und Evakuierung wird durchaus auch Friedens-Schaffung (Peace Enforcement) ein Szenario sein. Das muss nicht zwingend in Europa stattfinden. Es hieße aber doch, in einem europäischen Interessensraum eine bestimmte Operation auch mit militärischer Gewalt durchzuführen.
Wäre diese Schnelle Einsatzgruppe so etwas wie der Kern einer künftigen europäischen Armee?
Sie wäre ein klares Zeichen für die Weiterentwicklung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und für die Absicht Europas, sich neben den vielen zivilen Instrumenten auch ein militärisches Instrument zuzulegen. Also insofern würde ich sagen, ein Schritt zu mehr militärischer Reaktionsfähigkeit, aber von einer Armee ist es sehr, sehr weit entfernt.
Braucht es eine EU Armee? Wäre das nicht eine parallele Veranstaltung zur NATO?
Ich sehe in meiner Amtszeit von drei Jahren keine europäische Armee am Horizont. Von meinem eher konservativen Ansatz her gesehen ist eine eigene Armee das Kennzeichen souveräner Staaten. Eine europäische Armee wäre ein geeignetes Instrument, wenn die Europäische Union in so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa transformiert würde. Ob das realistisch ist? Das ist momentan einfach kein Thema.
Aber solange Europa keine kohärenten Entscheidungsfindungsprozesse hat, nicht mit einer Stimme spricht und auch keine Möglichkeit hat, Machtmittel einzusetzen und zwar ohne monatelange Diskussionen, so lange wird Europa auf der Weltbühne nicht als großer Player wahrgenommen werden. Und so lange besteht die Gefahr, dass Europa zwischen den Vereinigten Staaten, China, Russland und zunehmend auch anderen Mächten außen vor bleibt.
Befürchten Sie, dass zu einem tatsächlich heißen Krieg kommen könnte um Taiwan?
Das wird natürlich von der Haltung der Vereinigten Staaten abhängen. Die Vereinigten Staaten haben Taiwan nicht anerkannt. Sie haben aber sehr wohl die Verteidigung dieser Inseln mit gemeinsamen Manövern und mit entsprechender Unterstützung immer wieder betont.
Auf der anderen Seite hat Präsident Xi seine Ein-China-Politik immer wieder betont, und das schließt die Unverletzlichkeit des gesamten Territoriums, also Taiwans mit ein. Er betont es mit dem Hinweis, eine friedliche Lösung wäre anzustreben. Aber er sagt auch immer: Früher oder später wird das gelöst und zwar in unserem Sinne. Aber warum sollte ein österreichischer General in Brüssel hierfüreine Prognose abgeben? Nur so viel: Ich würde es leider nicht ausschließen.
Was, wenn Donald Trump wieder US-Präsident würde? Würde das der NATO schaden – und damit auch dem Schutz Europas?
Wenn Trump eine zweite Amtszeit bekommen sollte, würde das eine zusätzliche Aufforderung an Europa sein, mehr für die eigene Verteidigung zu tun. Nicht mehr und nicht weniger.
In der Lage, in der wir sind: Muss die Neutralität Österreichs nachjustiert werden? Brauchen wir sie unbedingt? Ist sie obsolet?
Die Neutralität war 1955 das hauptsächliche Instrument zur Wiedererlangung der Souveränität. Insofern hat sie ihre Funktion erfüllt – und auch jene, Österreich aus sämtlichen kriegerischen Konflikten seither herauszuhalten.
Nur behaupte ich, dass Letzteres weniger mit der Neutralität zu tun hatte als mit dem Umstand, dass wir unser Land mehr oder weniger im Schutz des atlantischen Bündnisses verortet hatten. Zwar nicht als Mitglied, aber doch mit einem Backup, und seit dem Zerfall des russischen Imperiums sind wir großteils von NATO-Staaten umgeben.
Somit hat man politischerseits die Neutralität immer sehr konstruktiv interpretiert, indem man sagt: Wir machen ein Maximum an Partnerschaft, arbeiten militärisch zusammen, aber wir beschränken uns auf die Kernfunktionen der Neutralität: Also keine Teilnahme an Kriegen, keine Stationierung fremder Truppen in Österreich.
Ob das langfristig das beste Rezept ist für Österreich, muss die Gesellschaft und die Politik entscheiden. Als Generalstabschef habe ich immer die Meinung vertreten: Wenn man neutral ist, enthebt einen das nicht einer solidarischen Beitragsleistung für die europäische Sicherheit. Und daher muss Österreich für seine Verteidigung mehr investieren, als es derzeit der Fall ist.
Kommentare