Verteidigung: Europa sucht seinen "strategischen Kompass"
So sehr Europa mit dem Kampf gegen die Corona-Pandemie beschäftigt ist, so weit gerieten andere, wichtige Fragen zuletzt ins Hintertreffen. „Die EU muss mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen“ hieß es denn auch am Freitag in der Schlusserklärung des zweitägigen EU-Videogipfels der EU-Staats- und Regierungschefs.
Die militärische Verteidigung der Europäischen Union – das war bis vor wenige Jahre ein Thema, das die allermeisten EU-Staaten vertrauensvoll in die Hände der NATO legten. 24 der 27 EU-Staaten gehörden auch der NATO an.
Bis (Ex-)US-Präsident Donald Trump kam, das westliche Militärbündnis diskreditierte und den Europäern schwante: Europa muss seine Verteidigung selber stärken, die einzelnen Staaten müssen militärisch enger kooperieren und auch eine eigene Rüstungsindustrie vorantreiben. „Strategische Autonomie“ ist seither das Schlüsselwort, das in Brüssel kontinuierlich beschworen wird.
Aber wir viel davon braucht es? Das war die Kernfrage, über die die EU-Regierungschefs am Freitag in Bezug auf ihre gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik sprachen.
„Möglichst viel“, trommelt dabei stets der französische Präsident Emmanuel Macron. Deutschland hingegen hegt die Sorge, dass die EU mit solchen Plänen Probleme in den Beziehungen zu den USA provozieren könnte. Zudem wird argumentiert, dass die EU so bald ohnehin keine vollständige Autonomie erreichen kann.
Hinter Berlin und den Staaten, die weiter fest auf die NATO setzen, stehen vor allem Polen und die baltischen Staaten.
Wie der Richtungsstreit ausgeht, wird sich spätestens im Frühling 2022 zeigen. Bis dahin wollen sich die EU-Staaten auf einen gemeinsamen „strategischen Kompass“ einigen. Er soll festlegen, was die EU in Krisen genau können soll – und was nicht.
Grundlage für die Arbeiten an dem Kompass ist eine Ende 2020 fertiggestellte Bedrohungsanalyse. In dem Geheimdokument wird unter anderem auf Basis von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen beschrieben, welche Gefahren von Ländern wie Russland und China ausgehen könnten.
90 Prozent der EU-Bürger
Am Rande ihrer Gespräche zum Kurs der EU tauschten sich die Staats- und Regierungschefs am Freitag auch mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg aus. Er warb für eine noch stärkere Zusammenarbeit zwischen EU und NATO. „Mehr als 90 Prozent der Menschen, die in der Europäischen Union leben, leben in einem NATO-Land“, argumentierte er.
Stoltenberg wies auch darauf hin, dass der neue US-Präsident Joe Biden von seinem Vorgänger Trump vernachlässigte transatlantische Allianzen wieder stärken will. Den aktuellen sicherheitspolitischen Herausforderungen könne sich kein Land und kein Kontinent allein stellen. „Nicht Europa allein, nicht Nordamerika allein, sondern nur Europa und Nordamerika zusammen“, sagte Stoltenberg.
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