Die NATO nach Trump: "Sie hat überlebt“
„Letztlich war es mehr ein Bellen als ein Beißen. Die NATO hat Trump überlebt“, weiß einer, der das westliche Verteidigungsbündnis so gut wie nur wenige kennt: Jamie Shea, britischer Historiker und Strategie-Experte, hat fast 40 Jahre lang für die NATO gearbeitet.
Eine „unerfreuliche Erfahrung“ seien die vergangenen vier Jahre für die NATO gewesen, sagt Shea gegenüber den FAKTEN. Aber der Großteil aller Entscheidungen sei ohnehin über das US-Verteidigungsministerium und auf Expertenebene gefallen.
Und so wurden, anders als von Trump ständig angedroht, keine US-Truppen abgezogen, sondern mehr nach Europa geschickt: 4.500 Soldaten nach Polen. In Litauen wurde zudem ein 1.200 Mann starker Kampfverband der NATO (keine US-Soldaten) installiert.
Shea: „Abgesehen von seinem Poltern und Drohen um Erhöhung der Verteidigungsbudgets der Mitgliedsstaaten hatte Trump für die NATO kein Konzept.“
Als Commander in Chief der US-Streitkräfte ist Donald Trump seit einer Woche Geschichte. Ein Stoßseufzer der Erleichterung dürfte durch die gesamte NATO gegangen sein. Das tonangebende, mächtigste und wichtigste ihrer 30 Mitgliedsländer wird sich, so die Hoffnungen an den neuen Oberkommandierenden in Washington Joe Biden, wieder als berechenbar zeigen. Vorbei die Zeiten, als ein US-Präsident das Militärbündnis leichter Hand als „obsolet“ abqualifizierte.
Trump weg, alles wieder in Ordnung?
„Vielleicht gibt es ja einen kurzfristigen Honeymoon“, äußert sich Generalmajor Johann Frank vorsichtig, „aber eine automatische Rückkehr zum Status quo vor Trump wird es für die transatlantischen Beziehungen nicht geben.“
Verspieltes Vertrauen
Dafür wurde zu viel Vertrauen verspielt, meint der Leiter des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement an der Landesverteidigungsakademie in Wien: „Besonders die Glaubwürdigkeit des Artikels 5 hat Schaden genommen.“
Also jener Kern-Grundsatz, der das Wesen der NATO ausmacht: Wird ein Mitgliedstaat angegriffen, stehen ihm die anderen zur Seite. Trump hatte ihn angezweifelt, Präsident Biden hingegen wird ihn bekräftigen. „Aber es wird wohl mehr als vier Jahre Biden brauchen, um dieses zerstörte Vertrauen wieder herzustellen“, sagt Frank.
Für die NATO der Post-Trump-Ära wird sich der Ton aus Washington ändern. Und auch dass der für Mitte 2021 angekündigte Abzug der US-Truppen aus Deutschland nun tatsächlich stattfindet, wird von den Experten bezweifelt. Einen Abzug der US-Truppen aus Afghanistan hält Experte Jamie Shea ebenfalls für unwahrscheinlich: „Aber andererseits wird Biden auch nicht Trumps Entscheidung revidieren, der bereits Tausende US-Soldaten aus dem Irak und Afghanistan heimgeordert hat.“
Und doch kommen auf die NATO mit Biden schwierige Zeiten zu. Möglicherweise schwierigere als mit Trump, den vor allem eines interessierte: Dollars.
Keine Pöbelei ließ der einstige Immobilientycoon aus, um die NATO-Staaten zu attackieren, sie müssten endlich zwei Prozent ihres BIPs in ihre Verteidigung stecken .
Trumps Erbe: Mehr Geld
Dabei hatte der Ex-Präsident durchaus Erfolg: 130 Milliarden Dollar an Verteidigungsausgaben wurden so zusätzlich aufgebracht. Das durchschnittliche Verteidigungsbudget der 30 NATO-Staaten erhöhte sich von 1,5 Prozent (2016) auf 1,8 Prozent bis Ende 2020.
Punkto höhere Verteidigungsausgaben wird auch Biden nicht nachlassen. Doch er will mehr, so viel wissen Verteidigungsexperten schon heute. Die NATO der Zukunft – das muss nach den Vorstellungen der Biden-Administration eine werden, in der nicht nur die Lasten, sondern auch die Risiken stärker mit den Europäern geteilt werden.
„Sie wird mehr Solidarität in Bezug auf Einsätze, auf Fähigkeiten und auch auf politische Fragen einfordern“, sagt Generalmajor Frank. „Und da wird die Schlüsselfrage lauten: Wie halten es die Europäer mit China?“
Das jüngst, auf Druck Deutschlands hin vor Jahresende durchgepeitschte Investitionsschutzabkommen zwischen China und der EU kam in den USA gar nicht gut an. Mit Peking Geschäfte machen, sich aber politisch und militärisch an die USA anlehnen, wie es Europa handhabt, das wird in den USA mit zunehmendem Argwohn gesehen. In Washington erwartet man sich eine klare Positionierung der EU auf der Seite der USA im sich zuspitzenden Systemkonflikt mit China.
„Systemischer Rivale China“
Für Europa aber ist das Reich der Mitte beides: ein unverzichtbarer wirtschaftlicher Partner und ein „systemischer Rivale“.
Steigen die Spannungen, werden sich die EU-Staaten auch in der NATO eindeutig positionieren müssen. Bereits im Vorjahr hat eine hochrangige internationale Expertengruppe Reformvorschläge für eine strategische Erneuerung des Militärbündnisses ausgearbeitet. Im Fokus des Konzepts mit dem Titel „NATO 2030: Einig in eine neue Ära“ steht – China.
„Unter Biden gilt: Die USA sind in der NATO wieder voll da. Aber die NATO wird sich eben auch ändern müssen“, sagt Jamie Shea. „Und die NATO wird eine globalere Rolle spielen.“
Strategische Autonomie
Die Europäer in der NATO aber haben die Demütigungen der Trump-Jahre nicht vergessen. Die Forderung nach „strategischer Autonomie“, das Bestreben, die Verteidigung Europas mehr in die eigene Hand zu nehmen, ist stärker denn je. Die EU treibt ihre gemeinsamen Verteidigungsprojekte (unter dem Namen PESCO) weiter voran. Das aber keinesfalls, wie die EU-Kommission in Brüssel stets betont, „als Konkurrenz zur NATO“.
Wie aber geht das zusammen? Amerikanischer Druck auf mehr Lastenteilung versus Europas Wunsch nach mehr eigener Verteidigung? „Es muss kein Widerspruch sein“, meint NATO-Experte Shea, „die USA müssen nur sehen, dass sich mehr europäische Selbstbestimmung auch für sie auszahlt.“ Etwa durch höhere Beteiligung Europas bei Einsätzen in Afrika oder in Nahost.
Österreich profitiert
Eine handlungsfähige NATO sei jedenfalls nicht nur der „Garant für die Sicherheit in Europa“, führt Johann Frank aus. „Auch Österreich profitiert von ihr.“
Man erlaube sich nur einmal das Gedankenspiel, wenn es das Bündnis nicht gäbe. Stichwort: Griechenland/Türkei oder erneute Spannungen auf dem Balkan. Und nicht zuletzt, so der Generalmajor weiter, „streckt im österreichischen Bundesheer sehr viel NATO.
Dass wir überhaupt in der Lage sind, uns an internationalen Friedenseinsätzen zu beteiligen, hat mit den von der NATO gesetzten Standards zu tun: Ausbildung, technische Zusammenarbeit, Software, Sprache – wir übernehmen alles.“
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