Viktor Orbán, der ewige Rebell
"Wer ist das?", fragten sich tausende Zuseher am Heldenplatz in Budapest und daheim vor den Fernsehgeräten am 16. Juni 1989, als ein junger ungarischer Jus-Student mit wilder Frisur ein Ende der "kommunistischen Diktatur" und Demokratie und Unabhängigkeit forderte. Viele Male wurde die Geschichte von Viktor Orbáns erstem öffentlichen Auftritt anlässlich der Neubestattung der Märtyrer und Freiheitskämpfer vom Volksaufstand 1956 bereits erzählt, um die ideologische 180-Grad-Wende des ungarischen Ministerpräsidenten zu verdeutlichen.
Sieht man genauer hin, scheint den Orbán von heute gar nicht so viel von seinem damals 26-jährigen Ich zu unterscheiden: Beiden gemein ist das Aufbäumen gegen äußere Kräfte und der Kampf für ein (seinem Verständnis nach) "freies" Ungarn – nur dass heute die EU und nicht die Sowjetunion der Feind ist.
Orbán selbst beschrieb sich einmal als "unglaublich schlimmes Kind". Geboren am 31. Mai 1963 in einem kleinen Dorf in Transdanubien, wuchs er in Felcsút nördlich von Budapest auf. Bekannt ist das nicht einmal 2.000 Einwohner große Dorf für das Fußballstadion, welches der sich selbst als "leidenschaftlich, aber wenig begabt" bezeichnende Fußballfan Orbán mit EU-Fördergeldern erbauen ließ. Außerdem weist das Dorf das höchste Pro-Kopf-Einkommen Ungarns auf – allerdings erst, seit Orbán Ministerpräsident ist.
Orbán wuchs ohne fließendes Wasser auf, nach der Schule half er den Eltern auf dem Feld. Der dominante Vater war Parteimitglied in dem von den Sowjets eingesetzten Kádár-Regime. Orbán absolvierte den Militärdienst, ein Jus-Studium, engagierte sich in der Studentenvertretung, bekam ein Stipendium des von ihm heute so verhassten ungarischen Milliardärs George Soros für ein Philosophiestudium in Oxford. Das brach er ab. Für die Politik.
Vom Revoluzzer zum konservativen Politiker
1988 gründeten Orbán und seine Jugendfreunde den liberalen Bund der jungen Demokraten, kurz Fidesz. Doch das politische Vakuum in Ungarn nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war umkämpft, Orbán erkannte seine Chance auf der konservativen Seite: Aus dem jungen Rebellen mit offenem Hemd und Jeans wurde ein salopp gekleideter, bürgerlicher Politiker rechts der Mitte. Das brachte Orbán 1998 den Sieg: Mit 35 Jahren wurde er jüngster Regierungschef Europas (bis der 31-jährige Sebastian Kurz kam).
Von Anfang an stützte sich das System Orbán auf gekaufte, loyale Unterstützer: Orbáns Kindheitsfreund Lörinc Mészarós, Gasinstallateur und ehemaliger Bürgermeister von Felcsút, gilt heute mit einem Vermögen von zwei Milliarden Euro als der reichste Ungar; Orbáns Schwiegersohn István Tiborcz stieg in nur drei Jahren in die Liste der 30 reichsten Ungarn auf.
In den sozialen Medien inszeniert sich Orbán mit Hunde- und Familienfotos; in der Öffentlichkeit gibt er sich als Beschützer und Kämpfer Ungarns – das Wort „Kampf“ kommt in jeder seiner Reden vor. Er meidet unkontrollierbare Situationen, gibt kaum Interviews.
Orbán hat immer gesagt, was er vorhat: 2011 gab er offen zu, mit der Verfassungsänderung einer nötigen Zweidrittelmehrheit für Gesetzesänderungen künftigen Regierungen die Hände binden zu wollen: "Nicht nur der nächsten, sondern den nächsten zehn Regierungen!" 2014 ließ er mit seinem Plan einer "illiberalen Demokratie" aufhorchen.
Orbán ist schlau, pragmatisch, flexibel, wendet sich mal der EU, mal Russland und China zu, "was auch immer ihm gerade nützt", sagt András Bozóki, Politikwissenschafter an der von Orbán aus Ungarn vertriebenen Central European University. Dafür sei er bereit, seine Ideologie zu opfern. Bozóki stellt eine provokante These auf: "Verkürzt kann man sagen, Orbán vereint den Pragmatismus von János Kádár und den Nationalismus von Reichsverweser Miklós Horthy (faktisches Staatsoberhaupt von 1920-1944, Anm.)."
Nach Zerfall der k.u.k.-Monarchie wurde die demokratische Republik Ungarn ausgerufen, der ehemalige Admiral Horthy wurde Reichsverweser. Nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 verfolgte Rákosi unter den Sowjets einen stalinistischen Kurs, es kam zum Aufstand Volksaufstand 1956, der allerdings niedergeschlagen wurde. Kádár führte einen milderen "Gulaschkommunismus", er war bis 1988 kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 an der Macht. Orbán leitet Fidesz seit den ersten freien Wahlen 1990, war von 1998 bis 2002 Ministerpräsident und seit 2010 bis heute.
Orbán ist erst 58 Jahre alt. Politologen sind sich sicher: Er strebe eine ebenso lange, geschichtsträchtige Amtszeit an wie Horthy (24 Jahre) und Kádár (32 Jahre). 12 Jahre hat er schon; zählt man die 1998 bis 2002 dazu, sind es 16; er ist bereits Europas längstdienender Regierungschef.
Ob sich sein Traum verwirklicht, entscheidet sich heute an der Urne.
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