Maritime Kriegsführung: Wie China und die USA um die Ozeane ringen
Rein von der Anzahl der Schiffe verfügt China über die größte Marine weltweit. Warum die USA trotzdem dominieren und auch eine Invasion Taiwans vorerst unwahrscheinlich ist, erklärt ein Experte.
Es ist eine Geschichte, die so gut wie allen angehenden US-Marines zu Beginn ihrer Ausbildung vorgetragen wird.
Im Spätherbst des Jahres 2006 führte die US-Marine im Ostchinesischen Meer, zwischen Taiwan und der japanischen Insel Okinawa, eine Marineübung durch. Im Zentrum stand der Flugzeugträger USS Kitty Hawk, von dem aus Kampfpiloten heikle Start- und Landemanöver proben sollten.
Wie üblich hatten dabei Dutzende Kriegsschiffe sowie mehrere Helikopter die Kitty Hawk in einer schützenden Formation umstellt, ein U-Boot deckte zudem die Tiefen des Meeres ab. Und doch geschah es.
Plötzlich, inmitten des Manövers, erreichte die Besatzung des mächtigen Flugzeugträgers ein Funkspruch. Sekunden später erhob sich ein chinesisches U-Boot aus der dunklen See – nur fünf Kilometer von der USS Kitty Hawk entfernt, in Torpedoreichweite, inmitten der US-Marineformation.
„Schock wie bei Sputnik“
Der chinesische Kapitän entschuldigte sich für den Vorfall und bat darum, das Gebiet sicher wieder verlassen zu dürfen. Die Amerikaner willigten ein, doch für sie war klar: Das war kein Unfall, sondern eine Provokation, die Chinesen hatten ihre Muskeln spielen lassen.
Die Geschichte des „Song-Zwischenfalls“, benannt nach dem chinesischen U-Boot-Typen, steht aus US-Sicht für eine Zeitenwende, NATO-Generäle sprachen von „einem Schock, wie zuletzt der Sputnik-Start in den Fünfzigerjahren“.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges hatte einst eine Ära der amerikanischen Alleinherrschaft über die Weltmeere begonnen. Keine andere Nation konnte der US-Marine ab den 1990er-Jahren etwas entgegenzusetzen, die über Jahrzehnte in allen Weltmeeren aktiv wurde und als Wächter des internationalen Seehandels auftrat.
Als Symbol der militärischen Überlegenheit dienten die insgesamt elf Flugzeugträger mitsamt dazugehörigen Kampfgruppen.
Ein Weckruf?
Keine andere Nation verfügte auch nur annähernd über ähnliche Kapazitäten. Und doch gelang es einem einzelnen U-Boot, noch dazu einer Song-Klasse aus chinesischem Eigenbau, unbemerkt eine solche Trägerkampftruppe zu infiltrieren.
Für das Pentagon war der „Song-Zwischenfall“ ein Weckruf, Medien schrieben, die USA hätten gleichzeitig die technologischen Fortschritte der chinesischen Marine verschlafen und die Fähigkeiten der eigenen, veralteten Kriegsschiffe überschätzt. Man sei davon ausgegangen, dass es nach der Sowjetunion nie wieder eine Nation außerhalb der NATO schaffen würde, auf dem offenen Meer eine Bedrohung darzustellen. Das prominenteste Opfer dieser Schmach war letztlich die USS Kitty Hawk selbst: Sie wurde für Reparaturen eingezogen und schon 2008 außer Dienst gestellt.
China hat aufgeholt
Heute ist die Welt eine andere, ein Wettrüsten um die Vorherrschaft auf hoher See wieder einmal in vollem Gange: 2006 betrug Chinas Wirtschaftsleistung noch ein Fünftel der USA, 2022 waren es rund 70 Prozent. Mit dem Aufstieg zur klar zweitgrößten Volkswirtschaft wuchsen auch die chinesischen Militärkapazitäten exponentiell.
Rein von der Anzahl der verfügbaren Schiffe her ist die chinesische Marine inzwischen die größte weltweit. Doch um die Macht einer Marine greifbar zu machen, zählt heutzutage vor allem eine Zahl: jene der Flugzeugträger.
Auch hier lässt sich der rasante technologische Fortschritt der Chinesen bemessen: Erst 2012 stellten sie mit der Liaoning ihren ersten Flugzeugträger in den Dienst – ein umfunktioniertes, ehemaliges Sowjet-Schiff, das sie einst der Ukraine abgekauft hatten.
Nur sieben Jahre später ließ man dann den ersten selbst gebauten Flugzeugträger zu Wasser: Die Shandong, die zu weiten Teilen der Liaoning nachempfunden, aber vollständig in China gefertigt wurde. Mit der Fujian dürfte noch in diesem Jahr der dritte chinesische Flugzeugträger in den Dienst gestellt werden, in den modernste Technologien verbaut sein sollen.
„Baufällige Konstruktion“
General in Ruhe Horst Pleiner, ehemaliger Generaltruppeninspektor des Österreichischen Bundesheeres und profunder Kenner der maritimen Kriegsführung, ist im KURIER-Gespräch nicht überzeugt.
„Es werden immer nur die nackten Zahlen gegenübergestellt: Die USA haben elf Flugzeugträger, die Chinesen bald drei. Aber in der Realität ist es nicht so einfach“, so der Experte. Die Liaoning sei im Grunde „eine baufällige, russische Konstruktion“ und die Shandong als erste chinesische Nachfolgeversion „auch nicht viel besser.“
Eine Kevlar-Panzerung wie sie die US-Flugzeugträger haben, hat etwa auch die Fujian keine: „Die Funktionsfähigkeit der chinesischen Träger muss erst bewiesen werden. Selbst, wenn sie einmal fünf bis sechs Träger haben sollten, würde das zunächst keinen zwingenden Unterschied machen.“ Alle elf Flugzeugträger der USA, selbst jene aus den Sechzigerjahren, seien im Vergleich dazu technologisch überlegen.
Zehn von ihnen nutzen dampfgetriebene Flugzeugkatapulte, mit denen die Kampfjets auf dem kurzen Deck innerhalb von Sekunden auf die nötige Startgeschwindigkeit beschleunigt werden können. Die beiden chinesischen Flugzeugträger Liaoning und Shandong nutzen dagegen kein Katapultsystem, sondern nach oben gekrümmte Startrampen.
Pleiner liefert eine Anekdote, um den Abstand zwischen den beiden Technologien aufzuzeigen: Vor einigen Jahren führte die Shandong Manöver in den Gewässern östlich von Taiwan durch, die von einer US-Trägerkampftruppe in rund 250 Kilometern Entfernung beobachtet wurden.
„Dabei stellten die Amerikaner fest, dass die Chinesen an zwei Tagen zusammengenommen nur 40 Starts durchführten“, so Pleiner. Zum Vergleich: „Von einem US-Schiff mit Dampf-Katapultsystem aus können in 24 Stunden bis zu 170 Einsätze geflogen werden.“
Der modernste US-Flugzeugträger, die 2017 zu Wasser gelassene USS Gerald R. Ford, verfügt sogar über ein noch moderneres, elektromagnetisches Flugzeugstartsystem (EMALS), mit dem die Kampfjets sogar noch schneller abheben können. Auf der Fujian, dem neuesten chinesischen Flugzeugträger, soll ein solches System ebenfalls verbaut sein.
Pleiner ist dennoch skeptisch, zumal es sich um ein eigens entwickeltes, chinesisches EMALS-System handelt: „Die Chinesen überspringen damit eine Technologie, verfügen noch dazu über keinerlei Erfahrung im Umgang mit solch modernen Startsystemen. Bis die Technik und die Abläufe erst einmal ineinandergreifen, vergehen Jahre“, sagt er und schärft nach: „Bis die Fujian tatsächlich operationell ist, lebe ich nicht mehr.“
Wenig Erfahrung
Pleiner mahnt zudem, den Erfahrungswert der Streitkräfte nicht zu unterschätzen: „Von den US-Amerikanern weiß man, dass sie sich seit 2003 auf eine Konfrontation mit China vorbereiten. In puncto Erforschung neuer Technologien haben sie massiv investiert– wenngleich über die Details nur wenig bekannt ist. Währenddessen müssen die chinesischen Streitkräfte vor allem im Flugzeugträger-Einsatz den Kampf der verbundenen Waffen erst lernen.“
Zusätzlich fehle der Volksbefreiungsarmee seit Jahrzehnten die Kampferfahrung: „Das letzte Mal hat man sich 1979 eine blutige Nase gegen Vietnam geholt“. In einer direkten militärischen Konfrontation zähle der Erfahrungswert massiv.
Eine solche Konfrontation würde sich aus derzeitiger Sicht am ehesten in Taiwan abzeichnen, doch auch hier mahnt Pleiner zur Ruhe: „Taiwan ist derzeit für China eine politische Zielsetzung, aber keine strategische“, sagt er.
China verfüge über keine großen Landungsschiffe, „mit kleinen Schiffen über die Straße von Taiwan zu fahren, dann an der seichten Westseite der Insel in dicht besiedeltes Gebiet vorzudringen, wäre zu gewagt. Momentan steht eine Invasion nicht auf dem Programm“, sagt Pleiner.
Dazu komme die Stärke der US-Verbündeten in der Region: „Japan alleine hat 40 Zerstörer und rüstet massiv auf.“ Auch die Helikopterträger könnten von F-35-Kampfjets als Start- und Landeplattformen verwendet werden. Südkorea und Australien verfügen derzeit über jeweils zwei, Japan über vier: „Dass das für die F-35 möglich ist, wurde 2018 auf einem australischen Helikopterträger unter Beweis gestellt“, sagt Pleiner.
Dass die Taiwan-Frage irgendwann heiß wird, steht für Pleiner außer Frage: „China will als maritime Macht auftreten, die Geografie ist ihnen nicht wohlgesonnen“, sagt er und verweist auf die zwei Inselketten, die China von der Hochsee trennen. „So sind sie in der Süd- und Ostchinesischen See und dem Gelben Meer eine Macht, kommen aber darüber hinaus nicht weiter.“
Auch die sechs Atom-Uboote, die Peking eigenen Angaben zufolge im Südchinesischen Meer im Einsatz hat, seien nicht zu überschätzen: „Es sind natürlich nicht sechs. Da stehen immer zwei Boote in einer Werft, anders ist das in dem warmen Wasser nicht möglich.“ Über diese Ketten hinaus reiche die Kapazität Chinas wohl für Einsätze im Rahmen von Piraterie-Bekämpfung im Golf von Aden, „eine Gefahr für die Welt ist die chinesische Marine jedoch nicht“, sagt Pleiner. Und im Falle einer Konfrontation mit den USA würde die chinesische Verbindung bis zu ihrer Basis in Dschibuti sofort gekappt: „Für diese lange Strecke kann Peking einen Schutz seiner Schiffe unmöglich gewährleisten.“
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