"Friedliche Menschen sterben": Wagner-Chef beklagt russisches Chaos

"Friedliche Menschen sterben": Wagner-Chef beklagt russisches Chaos
Lange war über den Beginn der ukrainischen Gegenoffensive gerätselt worden. Nun dürfte es bald losgehen.

Der Chef der russischen Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin, hat dem Verteidigungsministerium in Moskau angesichts des Dauerfeuers von ukrainischer Seite in der Grenzregion Belgorod Versagen vorgeworfen.

"Das Ministerium ist nicht in der Lage, etwas zu tun. In dem Ministerium herrscht Chaos", sagte er am Samstag auch mit Blick auf die verfahrene Situation in Russlands Krieg in der Ukraine.

Der 62-Jährige ist Vertrauter von Kremlchef Wladimir Putin. Er kündigte an, selbst mit seinen Wagner-Truppen in der seit Tagen beschossenen Region einzumarschieren, wenn das russische Militär dort nicht "schnellstens" Ordnung schaffe.

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Weiters in diesem Artikel:

  • Russen in Bachmut gebunden
  • Wagner-Chef: Truppen zu 99 Prozent aus Bachmut abgezogen
  • Probleme mit Bunkern: Selenskij erzürnt
  • AKW Saporischschja seit Monaten ohne Notstromleitung
  • Selenskij: NATO-Mitgliedschaft vor Kriegsende "unmöglich"

"Es läuft dort schon eine Eroberung des Gebiets", sagte Prigoschin. "Es sterben friedliche Menschen." Die Bevölkerung brauche Schutz. "Wir werden nicht auf eine Einladung warten", betonte Prigoschin. Allerdings müsse das russische Militär Munition bereitstellen. "Sonst sitzen wir, wie es heißt, mit dem nackten Arsch auf dem Frost."

Der Gouverneur von Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, meldete am Samstag massiven Beschuss auch mit Artillerie von ukrainische Seite. Es gab demnach Tote, Verletzte und schwere Zerstörungen an Gebäuden.

Kritik am Kreml

In einer längeren, im Nachrichtendienst Telegram veröffentlichen Rede verteidigte Prigoschin seine Kritik am Verteidigungsministerium und an Teilen des Kreml.

Zuletzt gab es Androhungen von Gewalt gegen ihn aus der Armee-Einheit des tschetschenischen Republikchefs Ramsan Kadyrow. Außerdem wurde Prigoschin aufgefordert, er möge seine öffentlichen Attacken gegen das Verteidigungsministerium unterlassen.

Er habe den Konflikt ausgeräumt bei einem Telefonat mit Kadyrow, sagte Prigoschin. Den Mund verbieten lasse er sich aber nicht. Der Wagner-Chef bekräftigte auch, dass er an seiner Klage bei der Generalstaatsanwaltschaft gegen das Verteidigungsministerium festhalte, weil durch fehlende Munitionslieferungen viele seiner Kämpfer getötet worden seien.

Zugleich warf Prigoschin Teilen des Kreml vor, sie hätten Zwietracht säen wollen zwischen Kadyrows Truppen und der Wagner-Armee. "Das ist ein gefährliches Spiel", sagte er. "Nicht wir haben die Büchse der Pandora geöffnet", sagte Prigoschin mit Blick auf den unheilvollen Kriegsverlauf. Er sagte einmal mehr, dass er sich mit Kadyrow einig sei, dass es eine Generalmobilmachung brauche und das Kriegsrecht, um den Krieg zu gewinnen. Der Kreml lehnt das bisher ab.

Rückzug vermint

Prigoschein warf er dem russischen Verteidigungsministerium unter anderem vor, den Rückzugsweg aus Bachmut, den die Wagner-Truppen benutzten, vermint zu haben. Das sei eine „Überraschung“ gewesen.

Der Wagner-Chef hat dem Ministerium in Moskau immer wieder vorgeworfen, die Arbeit der Privatarmee faktisch zu sabotieren. Auch warf Prigoschin Verteidigungsminister Sergej Schoigu immer wieder vor, seine Kämpfer nicht ausreichend mit Munition zu versorgen.

In der Regel ignoriert das Ministerium aber die Anschuldigungen Prigoschins.

Selenskij: Sind bereit für die Gegenoffensive

Seit Monaten wird über den Beginn der Offensive spekuliert, zeitweilig hatte es in Kiew geheißen, die Operation laufe bereits. Nun ist die Ukraine laut Präsident Wolodymyr Selenskij zufolge bereit für ihre Gegenoffensive zur Rückeroberung von Russland besetzter Gebiete. "Wir glauben fest daran, dass wir Erfolg haben werden“, sagt Selenskij im Interview mit dem Wall Street Journal

Er wisse nicht, wie lange die Offensive dauern und wie sie sich entwickeln werde. „Aber wir werden es tun und wir sind vorbereitet.“

Selenskij sagte auch, dass die Ukraine gern noch einige Waffen für die Offensive gegen die russische Invasion gehabt hätte, aber nicht mehr Monate warten könne auf deren Lieferung.

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    Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow bezeichnete unterdessen die Niederlage Russlands als wichtigstes Ziel der bevorstehenden Gegenoffensive seines Landes. "Wir müssen die Gewissheit der Russen erschüttern, dass sie diesen Krieg gewinnen können. Russland muss und wird diesen Krieg verlieren", so Resnikow.

    "Wir werden alle vorübergehend besetzten Gebiete der Ukraine befreien, bis wir die international anerkannten Grenzen von 1991 wiederhergestellt haben." Das schließe die Halbinsel Krim ebenso ein wie die Gebiete Luhansk und Donezk.

    Resnikow sieht für die Ukraine reelle militärische Fortschritte im Sommer. "Und zwar an zwei oder drei Stellen des Schlachtfeldes, im Süden wie im Osten. Es wird neue Fluchtwellen von russischen Soldaten auf unserem Territorium geben", sagte er.

    Die Ukraine ist nach Einschätzung von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg militärisch bereit für eine erfolgreiche Gegenoffensive. "Ich bin zuversichtlich, dass die ukrainischen Streitkräfte nun über die notwendigen Fähigkeiten verfügen, um weitere besetzte Gebiete zu befreien", sagte er.

    Russen in Bachmut gebunden

    Die russischen Streitkräfte in der Ukraine haben nach Ansicht britischer Militärexperten durch den Abzug der Söldnertruppe Wagner aus Bachmut an Flexibilität eingebüßt. So seien Einheiten der einst als Elitetruppen bekannten Luftlandetruppen VDV inzwischen an der Front in Bachmut im Einsatz, hieß es im Geheimdienstbericht des britischen Verteidigungsministeriums zum Krieg in der Ukraine am Samstag.

    „Die VDV haben seit der Invasion viel von ihrem “Elite„-Status verloren“, so die Briten. Russische Befehlshaber hätten zwar wohl versucht, einen Teil dieser Truppen als Reserve aufzusparen. Durch deren Einsatz an der Front in Bachmut seien aber nun die gesamten russischen Streitkräfte weniger in der Lage, flexibel auf Herausforderungen zu reagieren.

    Um die ostukrainische Stadt Bachmut war monatelang erbittert und verlustreich gekämpft worden. Im Kampf um die völlig zerstörte Stadt, die einst 70.000 Einwohner zählte, traten zudem in den vergangenen Wochen heftige Machtkämpfe innerhalb der russischen Militärführung zutage.

    Wagner-Chef: Truppen zu 99 Prozent aus Bachmut abgezogen

    Die russische Privatarmee Wagner hat nach Angaben ihres Chefs Jewgeni Prigoschin ihren angekündigten Abzug aus Bachmut fast abgeschlossen. 99 Prozent der Einheiten hätten die Stadt verlassen.

    „Alle Positionen sind in der entsprechenden Ordnung dem (russischen) Verteidigungsministerium übergeben worden.“ Es habe auch keine „Provokationen“ mehr seitens der ukrainischen Streitkräfte gegeben, sagte Prigoschin.

    Probleme mit Bunkern: Selenskij erzürnt

    Selenskij hat angesichts der ständigen russischen Raketen- und Drohnenangriffe auf Kiew erneut Probleme mit den Schutzbunkern in der Hauptstadt beklagt. Bürger beschwerten sich darüber, dass es zu wenige Bunker gebe und einige obendrein verschlossen seien, kritisierte Selenskyj in seiner abendlichen Videobotschaft am Freitag.

    In einigen Stadtteilen gebe es keinerlei Notunterkünfte. In den vergangenen Nächten war in der Ukraine immer wieder Luftalarm ausgelöst worden.

    „Dieses Ausmaß an Nachlässigkeit in der Stadt kann nicht durch irgendwelche Rechtfertigungen gedeckt werden“, sagte Selenskij. Er wies die Regierung an, sich um eine Besserung der Lage zu kümmern. Nach allem, was zuvor passiert sei in Kiew, sei dieser Zustand untragbar.

    Am Donnerstag hatten einige Menschen in der Hauptstadt bei nächtlichem Luftalarm vor einem verschlossenen Schutzbunker gestanden, drei von ihnen starben durch die russischen Angriffe, darunter ein neun Jahr altes Kind.

    Selenskij hatte da bereits gefordert, dass eine ausreichende Zahl an Bunkern überall zugänglich sein müsse. Es sei die Pflicht der Kommunen, dafür zu sorgen, dass die Schutzräume rund um die Uhr geöffnet seien. In Kiew hatte Bürgermeister Vitali Klitschko die Öffnung der Bunker sowie Kontrollen nach der Panne am Donnerstag angeordnet. Laut Selenskij gab es aber neue Probleme.

    AKW Saporischschja ohne Notstromleitung

    Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) beklagt weiter die unsichere Lage um das von Russland besetzte ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja.

    Das größte Kernkraftwerk Europas sei inzwischen seit drei Monaten ohne externe Notstromversorgung. Das mache das AKW extrem anfällig für den Fall, dass die einzige funktionierende Hauptstromleitung erneut ausfalle, hieß es in einer Mitteilung der Behörde am Freitag. Die in Wien ansässige IAEA ist besorgt, dass ein Ausfall der Kühlsysteme zur Überhitzung der Brennstäbe und des Atommülls und damit zu einer nuklearen Katastrophe führen könnte.

    In der Mitteilung hieß es weiter, vergangene Woche habe das IAEA-Team vor Ort berichtet, es habe zwei Landminenexplosionen direkt vor dem AKW-Gelände gehört. Dies verdeutliche erneut die angespannte Situation in der Region, wo intensiv über bevorstehende Militäraktionen spekuliert wird. Seit längerem wird über eine ukrainische Gegenoffensive in der Südukraine gemutmaßt, die auch eine Rückeroberung des Atomkraftwerks vorsieht.

    IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi kündigte an, dass er das AKW bald selbst besuchen werde. „Es ist wichtig, die Entwicklungen seit meinem letzten Besuch Ende März zu beurteilen“, sagte Grossi.

    Selenskij: NATO-Mitgliedschaft vor Kriegsende "unmöglich"

    In einem seltenen Eingeständnis hat der ukrainische Präsident einen NATO-Beitritt seines Landes vor dem Ende des Krieges als "unmöglich" bezeichnet. Sein Land verstehe, dass es kein NATO-Mitglied in einen Krieg hineinziehen werde, sagte Selenskij am Freitag nach einem Treffen mit dem estnischen Präsidenten Alar Karis vor Journalisten. Selenskij hofft beim NATO-Gipfel im Juli auf konkrete Beitrittszusagen für sein Land.

    "Wir sind vernünftige Leute"

    Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 drängt Selenskij verstärkt auf eine NATO-Mitgliedschaft seines Landes. Obwohl fast alle Staaten des nordatlantischen Bündnisses das Land in seinem Verteidigungskrieg militärisch unterstützen, ist die Idee eines formellen NATO-Beitritts der Ukraine weiterhin stark umstritten. Selenskij warb am Freitag neuerlich dafür.

    Dies sei die "beste Sicherheitsgarantie für die Ukraine", betonte er. "Wir sind vernünftige Leute und verstehen, dass wir kein einziges NATO-Land in einen Krieg hineinziehen werden", sagte der ukrainische Präsident. "Daher verstehen wir, dass wir nicht Mitglied der NATO sein werden, solange der Krieg andauert. Nicht, weil wir das nicht wollen, sondern weil es unmöglich ist."

    Ein NATO-Beitritt Kiews würde bedeuten, dass die Ukraine unter den in Artikel 5 geregelten NATO-Bündnisfall fallen würde. Dieser sieht bei einem "bewaffneten Angriff" auf einen oder mehrere Mitgliedstaaten eine kollektive Antwort vor.

    Damit würde es zu einer direkten militärischen Auseinandersetzung zwischen dem von den USA angeführten Bündnis und Russland kommen. Dies versuchen die beiden größten Atommächte der Welt bisher tunlichst zu vermeiden.

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