Serbische Opposition: "Serbien ist keine Demokratie mehr"

Tagtäglich wird Dragan Đilas in den serbischen Medien Korruption und Betrug vorgeworfen. Die Möglichkeit, sich zu erklären, bekommt er nicht. Seine Kinder werden in den Schulen diskriminiert, Lokalen droht die Schließung, sobald er mit seinen Parteikollegen dort essen will. Was der Chef der serbischen Oppositionspartei SSP dem KURIER erzählt, klingt mehr nach einer Diktatur als nach einer Demokratie. Am Sonntag wird in Serbien gewählt. Eine Wiederwahl von Präsident Aleksandar Vučić gilt als fix, doch die Opposition hofft, zumindest Belgrad zurückzuerobern. Das könnte der Anfang vom Ende Vučićs sein.
KURIER: Wie lebt es sich als Opposition in Serbien?
Dragan Đilas: Es ist ein Kampf. Wir haben hier keine politische Vielfalt. Die Regierung hat die Medien unter Kontrolle, Oppositionspolitiker werden festgenommen oder in den Medien degradiert, Demonstrationen werden niedergeschlagen.
Vier Jahre lang war ich Präsident der größten Oppositionspartei, keine Sekunde davon war ich im Fernsehen zu sehen. Heute steht jeden Tag ein Artikel über mich in der Zeitung, man wirft mir Korruption vor, und ich habe keine Chance, mich zu rechtfertigen. Meine Kinder werden in der Schule geschlagen und ausgegrenzt. Wenn wir als Opposition essen gehen wollen, nehmen die Lokale keine Reservierungen von uns an. Sie fürchten sich vor Repressalien seitens der Regierung. Letztens hat ein Restaurant am Tag nach unserem Besuch zugesperrt. So ist das Leben für uns.

Đilas bei einer Demo gegen Vučićs im März 2019 in Belgrad.
Eine ausländische Medienbehörde hat festgestellt, wie viele Stunden im Jahr im Staatsfernsehen positiv über Vučić berichtet wurde: Es waren 95 Stunden. Die negative Berichterstattung kam auf 2 Minuten 30 Sekunden. Wir als größte Oppositionspartei haben 4 Minuten 30 Sekunden positive und sechs Stunden negative Berichterstattung bekommen. Ich fühle mich oft wie Charlie Chaplin – ein Mann ohne Stimme.
Die Regierung entscheidet, was kommuniziert wird, von der Zahl der Corona-Infektionen über das Wirtschaftswachstum. Beim Krieg wurde etwa berichtet, dass die Ukraine Russland angegriffen hätte, oder dass Vučić Macron geholfen hätte, den Krieg zu beenden.
Die letzten Wahlen haben wir als Opposition boykottiert. Wir hatten auf die Unterstützung der EU gehofft, doch die sieht seit Jahren nur zu und toleriert Vučić – Merkel, Macron und Kurz hofierten ihn. Das hat mich sehr enttäuscht. Diesmal schließt sich die Opposition zusammen. Wir haben sehr kompetente Leute, Marinika Tepić, Borko Stefanović. Wir haben gute Chancen, bei der Parlamentswahl zu gewinnen – ich glaube nicht, dass Vučić und seine Koalitionspartei nochmal die absolute Mehrheit holen. Und wenn wir bei der Präsidentschaftswahl eine zweite Runde erzielen, haben wir auch da gute Chancen.

Serbien sei keine Demokratie mehr, sagt Đilas (r.).
Es ist kein Wunder, dass Orbán und Vučić sich gut verstehen. Vučić pflegt gute Beziehungen zu allen Diktatoren. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen Serbien und Ungarn: Ungarn ist Teil der EU, Serbien nicht. Orbán kann bestimmte Strukturen im System zerstören, aber nicht die Demokratie. Das würde die EU nicht zulassen.
Nein, das sind wir schon lange nicht mehr. Zu einer Demokratie gehören unabhängige Institutionen und Medien, Prinzipien, Regeln, Werte. Das alles haben wir nicht. Wir sind laut Korruptionsindex eines der korruptesten Länder Europas. Es gilt, diese autokratischen Politiker aufhalten, bevor sie noch mehr zerstören, als wir wiederherstellen können.
Noch zu Ungarn: Ich hoffe übrigens sehr, dass dort die Opposition gewinnt.
Dragan Đilas war in den 1990er-Jahren in der Bewegung gegen Serbiens Machthaber Slobodan Milošević aktiv. Von 2008 bis 2013 war er Bürgermeister Belgrads für die Demokratische Partei (DS). Derzeit ist er Chef der 2019 gegründeten Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (SSP). Đilas ist als Unternehmer aktiv. Serbische Staatsmedien werfen ihm immer wieder Korruption vor, er gilt als einer der größten innenpolitischen Kritiker Vučićs
Am Sonntag finden Parlaments-, Kommunal- und Präsidentschaftswahlen in Serbien statt. Die letzten Parlamentswahlen im Juni 2020 wurden von der Opposition boykottiert, die Wahlbeteiligung lag unter 50 Prozent. Die seit 2012 regierende Serbische Fortschrittliche Partei (SNS) von Aleksandar Vučić regiert mit absoluter Mehrheit
Die führenden serbischen Oppositionsparteien SSP, NS und DS stellten einen gemeinsamen Spitzenkandidaten auf, den früheren Armeechef Zdravko Ponoš. Auch bei der Bürgermeisterwahl in Belgrad treten die drei Parteien geeint an
Für uns ist der Weg in die EU eine Einbahnstraße. Das ist die einzige Chance, hier ein demokratisches System zu errichten. Doch im aktuellen Wahlkampf ist ein EU-Beitritt kein Thema mehr. Das ist der Fehler der EU: Vor zehn Jahren wurde uns die Tür geöffnet, seitdem hat sich nichts getan. Derzeit sind nur mehr 31 Prozent der Serben für einen EU-Beitritt, vor zehn Jahren waren es noch 70 Prozent. Fragt man heute die Bevölkerung, wer die Verbündeten Serbiens sind, werden zuerst Russland und China genannt, dann die EU.
Ich glaube, er hat sich bereits entschieden. Und zwar für Russland und China.
Wir sind zu 100 Prozent von russischem Öl und Gas abhängig, chinesische Firmen erhalten Aufträge ohne öffentliche Ausschreibung, bauen Serbiens Straßen- und Schienennetz aus. Dafür nehmen wir sogar Schulden auf, unsere Auslandsschulden betragen rund 30 Milliarden Euro. Zurzeit haben wir ein besseres Verhältnis zum Osten als zu unseren Nachbarn in Bosnien-Herzegowina, Kroatien und dem Kosovo. Das ist eine Schande.
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