Parolen & Verschwörungen: Wie sich Putin an sein Geschichtsbild klammert
Ein Kurswechsel, eine ausgestreckte Hand in Richtung der Ukraine und dem Westen? Wer sich das von Wladimir Putins Rede zur Lage der Nation erwartet hatte, wurde unweigerlich enttäuscht. Der Zar im Kreml hat sich längst zu weit in seinen Krieg, oder wie auch immer er ihn nennt, verrannt, um noch kehrtzumachen. Zu viele Opfer hat er seinem eigenen Volk schon abverlangt, zu viele Menschen sind gestorben.
Jetzt bleibt dem Mann, der dieses sinnlose Morden zum Großteil aus einer persönlichen Befindlichkeit aus gekränkter Eitelkeit angezettelt hat, nur noch, mit all seinen Halbwahrheiten, seinem historischen Mythen und seinen Verschwörungstheorien die Flucht nach vorne anzutreten. Putins Rede vor dem Föderationsrat in Moskau war also lediglich aus seinem üblichen politischen Baukasten zusammengesetzt. Der Westen sei verantwortlich für die Gewalt in der Ukraine. Er habe das Land so sehr unter Druck gesetzt, dass Russland gar nichts anderes übrig geblieben sei, als ihm zu Hilfe zu kommen.
Terroristen und Nazis
"Terroristen und Nazis" hätten dort das Sagen gehabt, ja der Westen wäre sogar bereit gewesen, den "Teufel persönlich" in die Ukraine zu schicken. Malerische Formulierungen für Putins immergleichen verzerrten Blick auf die Ukraine und den Krieg. Ja, die EU und die USA haben in der Ukraine seit der Orangenen Revolution an Einfluss gewonnen, doch dieser Einfluss ist den Ukrainern nicht aufgezwungen worden, sie haben ihn bereitwillig akzeptiert, auch weil das von Russland in Gestalt der Marionettenregierung von Wiktor Janukowitsch installierte System den Menschen wenig zu bieten hatte. Die Korruption und ausbeuterische Geldgier, die Putin in seiner Rede den pro-westlichen Oligarchen vorwarf, hat die nach seiner Pfeife tanzenden Kleptokraten ganz genauso ausgezeichnet.
Wir gegen den Westen
Für Putin ist die Ukraine nichts als ein Schlachtfeld der Einflusssphären - und auf dem wird mit allen Mitteln gekämpft. Es ist eine zutiefst imperialistische Sicht auf die Region, die über Jahrhunderte zum Großteil Russlands Einflusssphäre war, aber ebenso eine zutiefst imperialistische Sicht auf die Welt. Putin spielt das "Great Game" der Großmächte des 19. Jahrhunderts, einfach, weil er Russland als eine solche imperiale Großmacht begreift. Wenn er diesen Imperialismus wie so oft auch den USA unterstellt, mag er durchaus recht haben, doch das Schlachtfeld, auf dem Russland jetzt seinen imperialen Krieg kämpft, ist eine Einflusszone, die man längst verloren hat, auch weil sich 50 Millionen Ukrainer nicht mehr als Schachfiguren der Großmächte betrachten lassen, weil sie sich selbst für einen Weg entschieden haben.
Um das zu verhindern, blieb Putin kein anderes Mittel mehr, als einen Krieg vom Zaun zu brechen. Hunderttausende Tote, um eine Ideologie und ein System, um die eigenen imperiale Macht mit Gewalt durchzusetzen: Das ist nicht nur eine Form der Politik, die mit dem Ende des 20. Jahrhunderts nur noch in in den Geschichtsbüchern zu finden sein sollte, es ist auch eine Schuld, die Putin damit auf sich geladen hat, und für die er sich eines Tages verantworten müssen wird. Es gibt hundert Gründe, die Demokratie in der Ukraine zu kritisieren, ihre Unterwanderung durch politische und wirtschaftliche Drahtzieher zu beklagen, aber sie ist allein, was die Meinungsfreiheit betrifft, dem zunehmend autoritären System Putins in Russland viele Schritte voraus.
Zahlenspielereien a la Sowjetunion
Ein Gutteil der Rede Putins war der wirtschaftlichen Lage Russlands gewidmet. Und in bester sowjetischer Tradition wurden da Zahlen und Statistiken jongliert, die den durch nichts aufzuhaltenden Erfolg Russlands und seiner Wirtschaft darstellen sollten. Mit der Realität einer veralteten, weiterhin völlig von Rohstoffen abhängigen Wirtschaft wie der russischen hat das alles wenig zu tun, aber das war bei den großen Reden sowjetischer Zentralsekretäre nicht anders.
Wenn es irgendwo ein Versagen geben sollte, dann sind dafür wiederum nur ausländische Feindmächte, also der Westen verantwortlich. Putin verweist da wie immer auf die Neunzigerjahre in Russland, wo nach dem Zerfall der Sowjetunion eine Art Raubtierkapitalismus das Land beherrschte, dirigiert von Investoren und Beratern aus dem Westen. Damit hat er natürlich recht, dass es aber ein russischer Präsident namens Boris Jelzin war, der in seinem Alkoholnebel diesen Ausverkauf zuließ, ist die Kehrseite dieser Schreckensgeschichte.
Mehr als 20 Jahre ist es her, seit sich Putin als Retter der Nation dazu aufgeschwungen hatte, diesem Wahnsinn ein Ende zu setzen. Doch die Erneuerung Russlands ist ihm nicht gelungen. Stattdessen hat er das Land in eine immer brutalere Diktatur verwandelt, die irgendwann nicht mehr genug Rohstoff-Einnahmen besaß, um damit ihren Bürgern einen Aufschwung auf tönernen Füßen zu verkaufen. Und diese Bürger und mit ihnen ihre kulturell, historisch und familiär so eng verbundenen Nachbarn aus der Ukraine hat er nun in diesen Krieg gestürzt, aus dem er nicht mehr herausfindet. Diese Blut, das jetzt an Putins Händen klebt, lässt sich mit keinem auch noch so vehement vertretenen verqueren Geschichtsbild abwaschen.
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