Der Tag, bevor Putin kam: Wäre der Krieg zu verhindern gewesen?
Es ist sonnig in Kiew, für die Jahreszeit ungewöhnlich warm. Doch die Hauptstadt wirkt still. In den Cafés sitzen nicht viele Leute, irgendetwas stimmt nicht.
Es ist der 23. Februar 2022. Auf Facebook diskutieren Kiewer Mütter, ob sie ihren Kindern Blutgruppen-Aufkleber aufnähen sollen; auf Telegram diskutieren Freunde, ob sie sich den Streitkräften anschließen oder besser ausreisen sollen. Wolodimir Selenskij sitzt währenddessen im Kiewer Marienpalast; er ist gerade von der Münchner Sicherheitskonferenz heimgekehrt. Dort hat er den versammelten Westen verbittert gefragt, warum man ihm 5.000 Helme anbiete, während man vor Wladimir Putin auf die Knie falle. "Die Welt sagt, sie will nicht kämpfen. Russland sagt, es will nicht angreifen. Irgendjemand lügt hier", sagte er.
Der Blick des Westens
Wer gelogen hat, weiß man seit der darauffolgenden Nacht. Nach Wochen der Verhandlungen, des Wartens, der Angst ließ Putin seine Panzer rollen. Was folgte, war der verheerendste Krieg, den Europa seit dem Jahr 1945 erlebt hat. Ein Fünftel der Ukraine ist besetzt, Tausende Zivilisten wurden ermordet, ganze Städte ausgelöscht.
Was ist damals schief gegangen? Warum hat, abgesehen von den US-Geheimdiensten, kaum jemand an Putins Irrationalität geglaubt? Und wieso hat sich die Ukraine vom Westen derart missverstanden gefühlt?
Wer nach Erklärungen dafür sucht, muss sich ansehen, welches Land die Ukraine zum Zeitpunkt des Überfalls war – und vor allem, wie der Westen sie gesehen hat. Als den "kleinen Bruder Russlands", genauso korrupt, dazu noch innerlich gespalten, sah man das Land damals; Hilfe gab es immer mit einer Portion Skepsis.
Die eine Wahrheit ist: Das ist eine Erzählung Russlands, die der Westen bereitwillig geschluckt hatte. Die andere Wahrheit ist, dass ein Teil dieses Bildes über Jahre durchaus gestimmt hat. 2014, nach der Annexion der Krim, konnte sich die Ukraine nicht gegen Putins "kleine grüne Männchen" im Donbass wehren, weil ein großer Teil der Armeeausrüstung in den Jahren zuvor aus dem Land geschmuggelt worden war. Oligarchen hatten über Jahre ein "System der Vetternwirtschaft" aufgebaut, Wahlen wirkten inszeniert, und viele Wähler setzten ihre Stimme als Ware ein: Wer seinen Job oder sein Haus behalten wollte, unterstützte die lokale Elite – so war es jahrelang.
Nur: Zum Zeitpunkt der Invasion war dieses Bild veraltet. Verändert hat das – so paradox es auch klingt – Wolodimir Selenskij, selbst Meister der Inszenierung. Als TV-Satiriker hatte er sich jahrelang über genau diese Kleptokratie und Alltagsschwindeleien der Ukrainer lustig gemacht. Das hatte ihn 2019 zum idealen Präsidenten gemacht. "Er hat die Politik vom Zynismus befreit", urteilt die Harvard-Politologin Jessica Pisano – er hat das Vertrauen in die Politik langsam wieder hergestellt. Das, sagen Experten, war wohl mit einer der Gründe für die Resilienz der Ukraine im Jahr 2022: Die Schmiergeld-Praxis, früher überall üblich, gehörte nun der Vergangenheit an, die Verwaltung arbeitete nicht mehr nur für sich, sondern für die Bürger. All das stärkte das Vertrauen in den Staat.
Das Misstrauen des Westens hatte aber auch andere, gute Gründe, und einer war – Selenskij selbst. Sein Stern war massiv im Sinken, nachdem er seinen Rivalen, Ex-Präsident Petro Poroschenko, inhaftieren hatte lassen; alles sah nach einem Rückfall in alte Zeiten aus. Und selbst als die Russen sich an der Grenze formierten, war nicht klar, was er wollte: Noch Anfang Februar warf er den USA Panikmache vor und fragte: "Fahren bei uns etwa Panzer auf den Straßen herum?"
Was ihn damals ritt, kann er bis heute nicht gut erklären. In einem Spiegel-Interview meinte er kürzlich, die Informationen des Westens waren zu vage; er wollte wohl auch die eigene Bevölkerung nicht verunsichern. Freilich, Selenskij war eigentlich angetreten, um den Konflikt mit Russland endlich aus der Welt zu schaffen: Seine Wahl 2019 war auch vom Wunsch vieler Ukrainer getragen, es möge endlich Frieden geben.
Eingelöst hat er das nicht, doch das hätte er auch nicht können. Er hatte eine Lösung des Konflikts im Donbass gesucht, war aber am Unwillen Putins gescheitert; und eine Abwendung der Totalinvasion wäre ihm allein ohnehin unmöglich gewesen. Dazu hätte es mehr ökonomischen und diplomatischen Druck aus dem Westen gebraucht, so der Konsens nach einem Jahr Krieg – und zwar schon lange vor dem Jahr 2022.
Alleingelassen vom Westen fühlten sich die Ukrainer dennoch nicht. Im Gegenteil: Nach der Besetzung des Donbass schwand die Zahl jener, die ihre Zukunft in Russland sahen, massiv – weil viele Ukrainer die teils brutalen Lebensbedingungen in den "Volksrepubliken" kannten. Der Wunsch, zur NATO zu gehören, wuchs hingegen über die Jahre stetig.
Eine eigene Nation
Putin, das kann man im Umkehrschluss sagen, hat das Land von Russland weg nach Westen geschoben, zuerst mit Trippelschritten, jetzt mit Lichtgeschwindigkeit. Selbst das Russische, das er in der Ostukraine immer zu "schützen" vorgab, wird mittlerweile immer weniger gesprochen: War es früher Lingua franca, ist es jetzt als Sprache der Besatzer verpönt – viele Russischsprachige entscheiden sich freiwillig, einen Teil ihrer Identität abzuschneiden. Selenskij, selbst russischer Muttersprachler, macht das auch – und witzelt darüber: Bei TV-Auftritten fragt er manchmal hinter die Kamera, wie denn dieses oder jenes Wort auf russisch heiße – "es fällt mir nicht mehr ein".
All das heißt auch, dass es die Ukraine, wie sie am 23. Februar 2022 war, so nicht mehr gibt. Nicht nur, weil ihr ein Fünftel des Staatsgebietes fehlt, weil sie Zehntausender Menschen beraubt wurde, sondern auch, weil die Ukraine sich neu gefunden hat – als Nation. Das Vertrauen in den Präsidenten, den Staat und seine Institutionen ist seit Kriegsbeginn so massiv gewachsen wie nie zuvor, und nie seit der Unabhängigkeit 1991 war das Gefühl unter den Menschen, einer Nation anzugehören, größer. 80 Prozent fühlen sich als Bürger der Ukraine, hat das Kiewer Umfrageinstitut KIIS erhoben.
Das hatte Wladimir Putin am 23. Februar 2022, als er seinen Bürgern erklärte, die Ukraine sei "ganz und gar von Russland erschaffen" worden, wohl nicht im Sinn.
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