Chinas Völkermord: "Europa nimmt diesen Genozid nicht ernst"
Jurist Nury Turkel berät die US-Regierung beim Umgang mit China. Im KURIER-Gespräch sieht er den Genozid an seinem Volk weiter in vollem Gange und geht hart mit der EU ins Gericht.
Geboren 1970 in einem Gefängnis für politische Häftlinge in der chinesischen Provinz Xinjiang, ging Turkel 1995 für ein Masterstudium in die USA – und kehrte nie wieder zurück. In der neuen Heimat wurde er Anwalt, Aktivist, Politikberater. Als Vorsitzender der Kommission für Religionsfreiheit im US-Kongress ist Turkel der erste Uigure, der in den USA ein politisches Amt bekleidet.
Für das Times-Magazin war Turkel 2020 eine der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt. Von seiner Mutter, die vermutlich noch immer in Xinjiang lebt, hat er zuletzt vor fünf Jahren ein Lebenszeichen erhalten.
KURIER: Vor einem Jahr erkannte die UNO in einem Bericht offiziell die Verfolgung der Uiguren in China an - nur Minuten vor dem Ende der Amtszeit der damaligen Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet. War das aus Ihrer Sicht ein entscheidender Moment?
Turkel: Ich möchte zunächst betonen, dass dieser Genozid vor mindestens sieben Jahren begonnen hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die UNO so lange nichts getan hätte, wenn irgendein anderes Land so einen großen Teil seiner muslimischen Bevölkerung eingesperrt hätte. Vor diesem Hintergrund war der Bericht letztes Jahr also bahnbrechend.
Inhaltlich bot er zwar nichts Neues; das waren alles Informationen, die andere NGOs schon lange vorher veröffentlicht hatten, aber der Stempel der Vereinten Nationen macht ihn bedeutsam. Das ist die positive Seite der Medaille.
Und die negative?
In den zwölf Monaten seit seiner Veröffentlichung wurden keinerlei Maßnahmen ergriffen, sogar eine Debatte von China und seinen Verbündeten verhindert.
Es ist gut, dass der neue Hochkommissar, Ihr Landsmann Volker Türk, den Bericht ebenfalls validiert hat, aber was ist denn passiert? Wo war die Notfallsitzung, die in solchen Fällen sonst gerne einberufen wird? Dieser Genozid ist auch dank der zeitlupenartigen Vorgehensweise der Vereinten Nationen noch voll im Gange.
Die Uiguren
sind ein zentralasiatisches Volk, das seit dem 8. Jahrhundert im Gebiet des heutigen Xinjiang lebt. Sie sind mehrheitlich Muslime und ihre Sprache, Uigurisch, ist mit dem Türkischen verwandt.
Wie damals in Tibet
Seit 2014 geht Peking hart gegen die Uiguren vor: Man wirft ihnen religiösen Extremismus und Unabhängigkeitsbestrebungen vor, ähnlich wie Tibet seit Jahrzehnten. Lange war nicht bekannt, wie massiv die Repressionen sind: Erst 2018 berichtete der deutsche Forscher Adrian Zenz erstmals von Umerziehungslagern, von Zwangsarbeit und Folter. Im März wurden neue Daten und Fotos aus den Lagern veröffentlicht, sie belegen die Haft und Folter von mehr als 2.000 Uiguren – in nur einem einzigen der 61 Bezirke Xinjiangs.
Der Westen macht mit
Viele Firmen beziehen Produkte, die von uigurischen Zwangsarbeitern produziert werden – beschuldigt wurden etwa Zara, Uniqlo oder Skechers. Volkswagen hat eine Fabrik in Xinjiang, das Gros des globalen Bedarfs an Baumwolle und Polysilicium, das für Solarpanels benötigt wird, kommt von dort.
Dafür spricht auch, dass Chinas Machthaber Xi Jinping vor zwei Wochen völlig überraschend in die Uiguren-Region gereist ist, zum ersten Mal seit Beginn seiner Präsidentschaft 2012. Wie deuten Sie den Auftritt?
Es ist doch absurd: Xi Jinping kommt nicht zum G-20-Gipfel. Er schafft es nicht, dem APEC-Gipfel in San Francisco im kommenden November zuzusagen, wo sogar ein Treffen mit Joe Biden im Raum stünde. Aber er findet die Zeit für einen unangekündigten Besuch in der Uiguren-Region? Für mich ist das ein Zeichen, dass er mit seinem Vorhaben dort noch nicht fertig ist.
In einer Rede hat er auch davon gesprochen, dass man den “Kampf gegen den Terror” nicht aufgeben dürfe. Seine Handlanger vor Ort werden sich das zu Herzen nehmen und künftig wieder eine härtere Gangart auffahren. Auch aus Angst, sonst selbst bestraft zu werden.
Weil die kommunistische Parteiführung diese Angelegenheit schnellstmöglich zu Ende bringen will. Aus Ihrer Sicht können sie nicht einfach aufhören, denn sie haben Millionen von Menschen sehr wütend gemacht.
Indem sie uigurische Familien auseinandergerissen, ihre Lebensgrundlage zerstört, Frauen zwangssterilisiert und ihre Heimat für immer verändert haben, haben sie sich Feinde im eigenen Land gemacht. Ihr einziger Weg ist es deshalb, diese Population eingesperrt zu halten, bis sie so klein geworden ist, dass sie kein Problem mehr darstellt.
Die meisten Menschenrechtler sehen Lieferkettengesetze als Lösung, damit China nicht weiter an Zwangsarbeit durch Uiguren in Arbeitslagern verdienen kann. Hier hat sich im Vorjahr doch einiges getan: Ein US-Lieferkettengesetz ist schon in Kraft, die EU ist nachgezogen …
Das EU-Gesetz, auf das sie anspielen, ist so gestaltet, dass es den Import von Produkten verbietet, die nachweislich in Zwangsarbeit hergestellt wurden. Das ist eine Formulierung, die man breit interpretieren kann. Sie müsste viel enger, zielgerichteter sein.
Die US-Regierung hat dagegen schon im Dezember 2021 ein viel klareres Gesetz beschlossen: Darin wird davon ausgegangen, dass alle Produkte, die in der Uiguren-Region Xinjiang hergestellt werden, aus Zwangsarbeit stammen – außer, Unternehmen beweisen glaubhaft das Gegenteil.
Und die Auswirkungen sind schon spürbar?
Und wie. Importe aus der Uiguren-Region in die USA sind seither um 400 Millionen Dollar gesunken. Es gibt Konzerne wie den Elektronikriesen HP, die planen, sich aus China zurückzuziehen. Damit erreichen wir, dass sich dieses System für Chinas Regierung nicht mehr rentiert.
Dass wir heute trotzdem noch darüber diskutieren, welche Konzerne noch in Xinjiang tätig sind, liegt daran, dass unsere Verbündeten nicht in vergleichbarem Ausmaß nachgezogen sind. Vor allem die großen Player in Europa.
Sie haben den US-Kongress bei der Gestaltung des Lieferkettengesetzes beraten. Wie gefährlich ist es eigentlich für Sie, als Exil-Uigure in der Öffentlichkeit zu stehen?
Ich stehe sowohl in Russland als auch in China auf der Sanktionsliste. Es gab immer wieder Gegenwind, wenn ich meine Meinung öffentlich geäußert habe. Aber ich weigere mich, weiter in Angst zu leben.
Wenn man gegenüber solcher Grausamkeit nicht den Mund aufmacht, zerbricht man irgendwann. Hoffnung ist die stärkste Waffe gegen Unterdrückung. Wenn man hoffnungsvoll bleibt, hören einem die Leute auch zu. Nur dann kann man etwas bewirken.
Sie sprechen von Hoffnung. Was müsste sich denn in China ändern, damit Uiguren in Freiheit leben könnten?
Viele glauben, dass alle in Tanz und Gesang ausbrechen würden, wenn Xi Jinping einmal fort wäre. So funktioniert das in China aber nicht. Die Kommunistische Partei ist das Problem.
Das ist alles genauestens geplant und durchgeführt, ein hochmoderner Genozid, der andauern wird, bis es eine starke, gemeinsame, globale Reaktion gibt. Bis wir die meisten Großkonzerne davon überzeugt haben, sich und ihre Kunden nicht weiter mitschuldig zu machen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg auch deutsche Großindustrielle bei den Nürnberger Prozessen verurteilt wurden, weil sie als Mitschuldige für die Taten der Nazis galten. Das ist heute in China ganz ähnlich, bleibt aber folgenlos.
Es macht mich sprachlos, dass Europa, dieser Kontinent, der Hitler, Mussolini, Milošević und jetzt auch Putin erlebt hat, nicht ernst nimmt, was heute in China vor sich geht.
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