Ex-Botschafter zu Krieg in der Ukraine: "Nachgeben wäre eine Gefahr für Europa"
Emil Brix war Österreichs Botschafter in Moskau und kennt Wladimir Putin aus eigener Anschauung wohl wie kaum ein anderer Österreicher.
KURIER: Herr Botschafter, was dachten Sie am 24. Februar 2022, als Sie vom Überfall auf die Ukraine hörten?
Emil Brix: Mein erster Gedanke war: Wird die Ukraine das überleben? Es war klar, das ist ein konventioneller Landkrieg, es war nicht klar, ob die Ukraine von jemandem unterstützt werden würde. Das Wort Zeitenwende ist mir nicht sofort eingefallen.
Aber es passt.
Es ist eine Rückkehr ins 20. Jahrhundert mit einem Krieg, der an den I. Weltkrieg erinnert. Große Verschiebung der Fronten, dann Stellungskrieg.
Der Überfall ist lange vorbereitet worden. Haben Sie es für möglich gehalten, dass Wladimir Putin ernst macht?
Ja, weil ich ihn ja kennengelernt habe. Ich habe ihn immer als jemanden erlebt, der mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, so weit geht, wie ihn der andere lässt.
Der Westen hat Putin zu weit gehen lassen?
Wir haben sehr viel zugelassen. Wir haben auf die Krim-Annexion halbherzig reagiert. Und wir haben schon nach dem Zerfall der Sowjetunion in Georgien, Transnistrien nicht wahrgenommen, wie Moskau die Situation einschätzt – dass es wiederherstellen will, was es gab.
Putins Brandrede gegen den Westen bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 hat man auch ignoriert.
Da fiel eine Grundsatzentscheidung Putins, bei der wir nicht gewusst haben, wie wir reagieren sollen. In der Hoffnung, wir sind im 21. Jahrhundert – da passiert schon nichts.
Es geht nicht um die Ukraine, sondern um die Revanche für 1990 (Zerfall der Sowjetunion; Anm.) und den Kampf gegen den dekadenten Westen – wenn das Putins Motivlage war, hätte man seinen Überfall verhindern können?
Nicht dadurch, dass man gesagt hätte, wir erweitern nicht die NATO oder bieten Russland mehr Würde. Man hätte mehr achten müssen: Wo sind unsere Schwachpunkte? Und das ist zuallererst unsere Energieabhängigkeit. Aber da hat man den Märkten vertraut und darauf, dass sich durch die Wirtschaftsbeziehungen auch Russland ändern wird. Das war eine Illusion. Hätten wir die Ukraine früher zum NATO-Mitglied gemacht, hätten wir eine andere Situation und keinen Krieg in Europa.
Putin macht die NATO-Expansion für den Krieg verantwortlich. Dabei gab es nach 1990 Diskussionen, ob Russland nicht Teil gar der EU oder der NATO werden könnte. Wäre Russland in unser Wertesystem einbindbar gewesen?
Ich glaube schon. Die russische Geschichte ist geprägt von der Frage: Gehören wir zu Europa, oder sind wir ein eurasisches Land? Wir hätten nach Ende des Warschauer Paktes die Chance gehabt, Russland zu integrieren – Stichwort unter Gorbatschow: gemeinsames Haus Europa von Lissabon bis Wladiwostok …
Jetzt dreht Ex-Premier Medwedew das um: Russlands System von Lissabon bis Wladiwostok.
Wenn man sich Landkarte und Wirtschaftsströme anschaut, wäre die beste Option für Europa, gemeinsam aufzutreten. Das wurde versäumt. Ein Grund war sicher, wie die Demokratisierung und Einführung der Marktwirtschaft in Russland unter Jelzin passiert ist; und auf westlicher Seite ist es die damalige Sieger- und Besserwissermentalität, das „Alle müssen sich so verhalten wie wir“. Diese Illusion bauen wir ja weltweit auf, und nicht einmal in Europa funktioniert das.
Sie haben Putin in Moskau erlebt: Wie tickt er? Und hat sich sein Ticken seither verändert?
Putin hat sich nicht verändert. Ich bin zutiefst überzeugt: Das, was wir jetzt erleben, war im Kopf Putins schon lange Zeit davor. Ich habe ihn als einen erlebt, der über alles bestens informiert ist, bis ins kleinste Detail. Und weiß, wie er mit seinen Gesprächspartnern umzugehen versteht, um sein Narrativ anzubringen, so wie sein Außenminister Lawrow – Motto: Ich habe meine Position, die vertrete ich, egal was der andere sagt, und ich schaue, wie weit ich gehen kann. Das macht es auch so schwierig, den Krieg zu beenden. Weil’s kaum glaubhaft ist, dass mit einem Waffenstillstand ein Kompromiss auf längere Zeit möglich wäre.
Der Ruf, den Krieg zu beenden, wird immer lauter. Wie?
Es ist unwahrscheinlich, dass wir den Krieg durch Diplomatie und Verhandlungen beenden können. Der Krieg wird enden, wenn in Russland die Entscheidung fällt. Den Krieg hat Putin begonnen, Putin wird ihn auch beenden. Was wir tun können, ist schauen, dass die Ukraine nicht untergeht.
Stärke zeigen, weil Putin nur das versteht?
Putin versteht nur Stärke und reagiert nur auf Stärke.
Wie bringt man Putin aus der Nummer raus, diese Frage ist also müßig?
Aus der Nummer kann er nur selbst heraus kommen. Die Frage ist: Kann man einen Punkt erreichen, wo er das auch so sieht – oder ein Nachfolger. Ich glaube schon, dass es Putin überrascht hat, wie schnell und wie entschlossen hier eine Allianz aus Demokratien entstanden ist, die ihm Paroli bieten.
Und wenn die Ukraine auf den Donbass verzichtete und auf die Krim, die ohnehin schon annektiert ist?
Nein, das Nachgeben wäre eine Aufforderung zu weiteren Schritten Putins und eine Gefahr für Europa.
Droht eine Verschärfung des Krieges?
Niemand kann ausschließen, dass Putin sich irgendwann für eine Eskalation entscheidet …
… inklusive Atomwaffeneinsatz in der Ukraine?
… auch wenn er weiß, was das für eine Gefahr für ihn bedeutet. Ich glaube, die Amerikaner machen ihm auf den Kanälen, die noch bestehen, schon klar, was das für Konsequenzen hätte. Nicht im atomaren, aber im im konventionellen Bereich, das könnte ihn schon seiner militärischen Kapazitäten berauben.
Nach dem Krieg: Wird der Westen mit Wladimir Putin wieder an einem Tisch sitzen (müssen), reden, verhandeln, als wäre nichts gewesen?
Wir sind nicht in der Zeit des Wiener Kongresses und können den Napoleon nicht auf irgendwelche Inseln schicken. Wir werden auch mit Putin leben müssen. Aber das Vertrauen wird weg sein, so wie er vor dem 24. Macron, Scholz und anderen ins Gesicht gelogen hat.
Heute in einem Jahr?
Ich glaube, dass wir weniger russische Soldaten auf ukrainischem Staatsgebiet sehen werden. Dass die Ukraine einen Teil ihres Gebietes befreit haben wird. Und dass wir Verhandlungen haben, wie es weitergehen soll.
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